Скачать книгу

      Sarah Engell

      Verdammte Unschuld

      Lindhardt & Ringhof

      Kapitel 1

      Ich ziehe meine Boxhandschuhe an und halte sie prüfend vor das Gesicht. Das schwere Gefühl gibt meinem Körper Ruhe. Ich atme den Geruch von Leder ein, während ich mich im großen Spiegel an der hintersten Wand der Sporthalle betrachte.

      Aus den Lautsprechern an der Decke schlägt der Bass wie ein Puls. Das Vibrieren klettert durch die Gummisohlen meiner Schuhe bis in meine in den Handschuhen leicht gebeugten Finger hinein. Ich bounce von Seite zu Seite, wärme die Beine auf, während ich immer noch die Deckung halte.

      An der Decke über der hintersten Wand hängen sechs Sandsäcke an Eisenketten. Ihre schwarzen Lederkörper bilden ein schweigsames Glied, abwartend.

      Jannick steht bei der Musikanlage und stellt gerade das Headset ein. Er nimmt das kleine Mikrofon und hält es vor den Mund, dreht prüfend an der Lautstärke. Das schwarze Shirt sitzt eng am Oberkörper.

      Ich mache einige prüfende Schläge in die Luft. Jab, cross, jab.

      Jannick blickt mich an und lächelt. Ich mache die Schläge härter, kann den Puls schon steigen spüren.

      Jannick betritt die Halle und stemmt die Hände in die Hüften. Er ist der einzige, der in den Sommerferien so viele an die Freizeitschule ziehen kann. „Und jetzt“, ruft er. „Seid ihr fresh?“

      Es wird applaudiert. Jannick blickt sich in der Halle um, während er das Zirkeltraining einleitet. Ich betrachte seine Lippen, die Haare, die seit dem letzten Mal länger geworden sind, die Hände, die mit kraftvollen Bewegungen jede einzelne Übung vorführen. Er zwinkert mir zu, als er mich zur Basis schickt. Ich fange bei Nummer acht an, das ist Schattenboxen. Die Musik wird lauter gedreht, und ich konzentriere mich darauf, meine Schläge zu optimieren. Mein Spiegelbild und ich tanzen einander gegenüber. Ich ziele auf die Nase, treffe sie mit harten, exakten Schlägen. Jab, cross, jab.

      Jannick streift den äußersten Sandsack mit der Hand, als er zu mir kommt. Er duftet nach Pfefferminz und Sonnenschein. Seine Haut ist nach drei Wochen in Thailand goldbraun, und seine Augen sind noch blauer, als ich sie in Erinnerung habe.

      „Zweieinhalb Minuten!“ ruft er in das Headset. „Gebt alles, was ihr habt“.

      Er legt eine Hand über das Mikrofon und stellt sich ganz dicht an mich. „Maria! Wie habe ich dich vermisst.“

      Ich lächele ihn an. Mein Herz schlägt im Takt mit der Musik. „Ich gratuliere dir zum Geburtstag“, flüstere ich.

      Sein Zeigefinger gleitet über mein Gesicht und streift meine Lippen. „Weiter!“ ruft er in das Mikrofon.

      Der Lärm von hämmernden Bassrhythmen, stöhnenden Atemzügen und Schlägen gegen die Sandsäcke hängt schwer im Raum.

      Weiter.

      Jannick stellt das Mikrofon ab und streicht eine Strähne aus meinem Gesicht. „Hattet ihr eine schöne Zeit im Ferienhaus?“

      „Wir sind gar nicht hingefahren.“ Ich schwinge meine Arme, spüre das schwere Gefühl der Handschuhe. „Papa klopfte einfach an die Tür und sagte, dass wir zu Hause bleiben. Ich und Christina waren die meisten Tage am Strand. Siehst du, dass ich braun geworden bin?“ Ich halte meinen Arm neben seinen.

      Er streichelt mich über die Wange. Er blickt mein Gesicht sehr lange an. „Jetzt bin ich wieder da, um auf dich aufzupassen“, sagt er.

      Ich blicke in seine blaue Augen und weiß nicht, was sagen, außer danke.

      Er berührt meine Schulter und lehnt sich gegen mich. Für einige selige Augenblicke spüre ich seine warmen Lippen im Nacken.

      „Wir sehen uns heute Abend“, flüstert er. Dann schaltet er das Mikrofon wieder ein und setzt seinen Rundgang zu den anderen Schülern fort. Im Spiegel habe ich ein Auge auf ihn, während ich weiter gegen mich selbst boxe.

      Jab, cross, jab.

      Mir tritt der Schweiß auf die Stirn und läuft die Schläfe runter. Jannick fängt meinen Blick im Spiegel. Wir lächeln einander zu.

      Uppercut, hook.

      Kapitel 2

      Christina steht nackt vor dem Spiegel im leeren Umkleideraum. Sie streckt ihren kleinen Finger aus, als sie die Wimperntusche aus der Hülle nimmt und eine dicke Schicht Schwarz auf die Wimpern aufträgt. Sie fängt meinen Blick im Spiegel. „Du siehst aus wie ein Weihnachtsbaum“, sagt sie. „Oder wie ein Weihnachtsmann. Wie sagt man?“

      „Hast du auch eine in braun?“ frage ich und werfe einen Blick auf die Wimperntusche.

      Sie schiebt ihre Toilettentasche in meine Richtung. „Aber klar. Immer super, wenn der Freund nach Hause kommt, wie du weißt. Oder einfach kommt.“ Sie betont das letzte Wort und stupst mich in die Hüfte.

      „Verdammt“, sage ich und betrachte mich in dem Spiegel.

      Christina reicht mir ein Reinigungstuch. „Okay. Sonst cooles Training heute. Super, wieder in Schwung zu sein, die Oberschenkel zu straffen und so. Findest du nicht auch?“

      Ich werfe ihr einen schiefen Blick zu, während ich etwas Braunes von der Wange abwische. „Warum sprichst du wie ein betrunkener Idiot?“

      „Ich bin sehr froh, dass du fragst“. Sie spricht jetzt leise und lehnt sich gegen mein Spiegelbild. „Ich habe es getan.“

      Ich stehe da mit dem Reinigungstuch in der Hand und zögere.

      „Es?“

      Sie steckt die Wimperntusche in die Hülle zurück, schiebt sie ein paar Mal schnell rein und raus. Dann lacht sie.

      Ich sauge Luft ein. „Das ist nicht wahr“, flüstere ich. „Mit Vojens?“

      Christina nimmt einen roten Lippenstift hervor und dreht die Kappe ab. Langsam lässt sie ihn über die Lippen gleiten. Sie drückt sie zusammen, um die Farbe zu verteilen. „Ich habe mit Vojens Schluss gemacht“, sagt sie dann.

      „Was? Das wusste ich gar nicht. Wann?“

      „Gerade danach.“

      „Danach?“

      Sie nickt. Mit dem Lippenstift in einer Hand öffnet sie ihr Handy, tippt herum und dreht es zu mir. Es zeigt ein verschwommenes Foto vom besten Freund ihres Bruders.

      „Mick?“ Ich reiße die Augen auf. „THE Mick?“

      Sie kichert, macht einen Schmollmund und betrachtet ihn im Spiegel.

      Ich schüttele den Kopf. „Aber wann? Wie?“

      Christina klappt das Handy zusammen und legt es auf die Ablage unter dem Spiegel. Sorgfältig entscheidet sie sich für ein Parfüm und sprüht ein paar Mal auf jede Seite des Halses. „Gestern Abend gab Jeppe eine Party. Er hat Glück, weil er zu Hause den ganzen Keller für sich hat. Aber ich lag oben in meinem Zimmer und konnte die Musik durch den Boden hören. Ich verstehe nicht, dass er so laut spielen darf. Dann plötzlich geht die Tür auf, ich glaube, es war gegen ein Uhr oder so. Erst dachte ich, es sei Jeppe, der sich meine Festplatte mit Musik ausleihen wollte. Er hat die schlechteste Musiksammlung ever.“

      Ich mache eine Handbewegung, um zu zeigen, dass sie zur Sache kommen soll.

      Christina sprüht Parfüm auf die Handgelenke und reibt sie gegeneinander. Sie blickt mir direkt in die Augen, als sie sagt: „Dann sah ich, dass es Mick war“. Das Strasssteinchen auf ihrem Zahn vorne funkelt wie ein Lächeln. „Erst wusste ich überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Aber zum Glück brauchte ich gar nichts zu sagen. Mick setzte sich auf mein Bett und streichelte mir über die Haare. Er sagte, dass die anderen betrunken wären und dummes Zeug redeten. Dass er müde wäre und einfach nur mit einem lieben Menschen reden wollte“.

      „Aber du hast doch gar nichts gesagt.“

      „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

Скачать книгу