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Literaturstreit und Bocksgesang. Jürgen Brokoff
Читать онлайн.Название Literaturstreit und Bocksgesang
Год выпуска 0
isbn 9783835329232
Автор произведения Jürgen Brokoff
Жанр Документальная литература
Серия Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik
Издательство Bookwire
1993 veröffentlichte der Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß, 70, im SPIEGEL seinen berühmten Essay »Anschwellender Bocksgesang«. [….] Kaum ein Text in der Publizistik des wiedervereinten Deutschlands sorgte für mehr Empörung und Diskussionen, von seinen Gegnern wurde Strauß zum Vordenker eines neuen rechten Deutschlands erklärt. Vor zwei Wochen noch setzte sich der SPIEGEL-Redakteur Cordt Schnibben in einem Text über seine Erlebnisse als Helfer in den Hamburger Messehallen, wo mehr als 1000 Flüchtlinge untergebracht waren, kritisch mit den umstrittenen Thesen des Schriftstellers auseinander. Nun beschäftigt sich Strauß, der zurückgezogen in der Uckermark lebt, aus Anlass der Flüchtlingskrise ein zweites Mal mit dem Thema. (122)
Für den hier interessierenden Zusammenhang ist es wichtig, dass die Spiegel-Reportage, die Strauß vorab eine negative Haltung zur aktuellen Flüchtlingshilfe zugeschrieben hatte, zum diskursiven Kontext der Glosse Der letzte Deutsche gehört. Sie bildet gewissermaßen den Schreibanlass für die Glosse, die gemäß den Gesetzen der Gattung in Form eines spöttischen Kommentars auf politische oder publizistische Ereignisse reagiert. In dieser Glosse, die die zwei Wochen zuvor erschienene Reportage mit keinem Wort erwähnt, nimmt Strauß nun in der Tat kritisch zu aktuellen Fragen von Flucht und Migration Stellung. Er macht sich dabei, wie er selbst schreibt, zur »komischen Figur« (124): Er sei der »letzte Deutsche« (122), der als verbliebenes »Subjekt der Überlieferung« (123) fest daran glaube, »Hüter und Pfleger der Nation in ihrer ideellen Gestalt zu sein« (124). Ungeachtet der vom Autor selbst eingestandenen und vom Feuilleton durchweg ignorierten Komik, die auch im ironisierten Anspruch besteht, »immer von irgendwas ein Letzter sein zu wollen« (122), provoziert und stimuliert Strauß sein Publikum durch Reizwörter. So schreibt er, dass er lieber »in einem aussterbenden Volk« leben möchte als in einem, »das aus vorwiegend ökonomisch-demographischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird« (123). Er beklagt den in der öffentlichen Diskussion zu verzeichnenden Raub der »Souveränität, dagegen zu sein« (123) und fragt danach, ob »den Deutschen Besseres passieren [könne], als in ihrem Land eine kräftige Minderheit zu werden« (ebd.). Und er thematisiert eine seiner Ansicht nach verbreitete »Sorge« (124) über die »Flutung des Landes mit Fremden« (ebd.) und kritisiert die von ihm beobachtete Haltung der »Selbstaufgabe« (ebd.), derzufolge »endlich Schluss sein [wird] mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur« (ebd.).
Es ist nicht zu entscheiden, ob die mit den zitierten Formulierungen verbundene politische Positionierung, die auch sprachkritisch zu analysieren sein wird, auf eine seit Längerem bestehende Haltung des Autors schließen lässt, wie viele seiner Gegner und Kritiker annehmen, oder ob sie durch die Reportage erst angestoßen wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass die öffentliche Markierung als Rechtspopulist, Antidemokrat oder Ausländerfeind zu einer nachträglichen Bestätigung der Vorwürfe durch die davon Betroffenen führt.[14] Unabhängig von dieser Frage aber, die nur sozialpsychologisch beantwortet werden kann, sind an die Beurteilung der Glosse – und der causa Strauß insgesamt – in textanalytischer Hinsicht zwei Mindestanforderungen zu stellen.
Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Glosse von Strauß kein isolierter Sprechakt ist, sondern in kommunikativen Zusammenhängen steht. Dazu gehört, wie ausgeführt, an erster Stelle die Spiegel-Reportage vom 19. 9. 2015. Überraschenderweise nimmt keiner der Feuilleton-Artikel, die der Glosse von Strauß mit Kritik und zum Teil mit vehementer Ablehnung begegnen, auf die Reportage Bezug.[15] Stattdessen werden Strauß’ Äußerungen ungeachtet der von den Artikeln ins Spiel gebrachten historischen Verweise auf die »Konservative Revolution«, Helmuth Plessner und andere Autoren isoliert betrachtet. Fast scheint es, als herrsche die ansonsten vielfach kritisierte Überzeugung vor, dass das Schriftsteller- und Dichter-Wort auch in der Gegenwart für sich allein steht und aus sich heraus verstanden werden kann. Es macht jedoch einen großen Unterschied, ob sich ein Autor wie Strauß ohne weiteren Anlass zum Thema Flucht und Migration äußert oder ob er mit seinen Äußerungen auf die Veröffentlichungen anderer reagiert, die zuvor ein bestimmtes Bild des Autors in der Öffentlichkeit gezeichnet haben.
Die zweite Anforderung besteht darin, die Äußerungen von Strauß so genau und vorurteilsfrei wie möglich zu lesen und damit der Gefahr einer »Nuancenvernichtung«[16] vorzubeugen. Ein Beispiel aus der Glosse von Strauß kann dies verdeutlichen. Strauß hatte geschrieben:
Die Sorge ist, dass die Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen. Dem entgegen: Eher wird ein Syrer sich im Deutschen so gut bilden, um eines Tages Achim von Arnims »Die Kronenwächter« für sich zu entdecken, als dass ein gebildeter Deutscher noch wüsste, wer Ephraim der Syrer war. Zuletzt ist es eine Frage der persönlichen Wissbegierde, denn die üblichen Ausbildungsprogramme reichen nicht bis dorthin. Man darf annehmen, dass in puncto Wissbegierde der Syrer sich im Vorteil befindet. (124)
Deutlich erkennbar setzt Strauß an dieser Stelle seine andernorts – etwa im Essay Anschwellender Bocksgesang – geäußerte Kritik an Normenwelt und Bildungsanspruch der Deutschen und »reichen Westeuropäer« fort. Die in der Glosse referierte Sorge, dass die verstärkte Einwanderung von Geflüchteten zur Entwicklung von Parallelgesellschaften beitragen könnte, ist klarerweise nicht die des Autors Strauß. Demgegenüber zu behaupten, dass dieser selbst von der genannten Sorge erfüllt sei, gibt den Sinn der zitierten Stelle nicht richtig wieder. Strauß’ kritische Argumentation ist primär auf die eigene Nation gerichtet. Dies anzuerkennen bedeutet nicht, die von Strauß bezogene Position inhaltlich zu übernehmen oder die vom Autor im Zusammenhang mit der referierten Sorge verwendete Formel von der »Flutung des Landes« unkritisch gelten zu lassen.
Man kann den Sichtweisen und Argumenten, die Strauß in den zitierten Texten vorbringt, begründetermaßen kritisch gegenüberstehen. Umso mehr ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer nuancierten und differenzierten Lektüre. Dabei geht es weniger um die politische Beurteilung der öffentlich vorgetragenen Argumente von Strauß als um die Rekonstruktion der diskursiven Zusammenhänge, in denen diese zu verorten sind. Wie die zitierten Formulierungen der Spiegel-Reportage von 2015 über »rechten Mainstream« und »rechtspopulistische« Autoren zeigen, kreist die Debatte auch um die vermeintliche oder tatsächliche Einnahme »rechter« Positionen durch Intellektuelle, Schriftsteller und »Dichter« in der kulturellen Öffentlichkeit. Dies bestimmt schon 1993 den Streit um den Essay Anschwellender Bocksgesang oder, genauer, den Streit um die Veröffentlichung des Essays. Denn die Gedanken und Argumente, die in den seinerzeit und neuerdings wieder kritisierten Texten von Strauß und anderen vorgebracht werden, lassen sich vom Vorgang der Veröffentlichung nicht trennen. Der öffentliche Charakter einer vermeintlichen oder tatsächlichen Positionierung im »rechten« politischen Spektrum ist konstitutiver Bestandteil der Positionierung selbst und bedarf seinerseits der Analyse.
Zwischen dem Mauerfall am 9. 11. 1989, der ein Jahr später zur Vereinigung Deutschlands führt, und dem Erscheinen von Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang im Februar 1993 vollzieht sich ein bemerkenswerter Wandel in der politischen Diskussionskultur. Er verändert, wie in der vorliegenden Studie erörtert werden soll, die Konzepte von literarischer Autorschaft und öffentlicher Meinung und wirkt sich noch heute auf die Struktur öffentlicher Debatten aus. Diese Struktur wird, bei allen Veränderungen der politischen, kulturellen und medialen Kommunikationsbedingungen, nach wie vor durch Intellektuelle, durch ihre Beiträge und Stellungnahmen in der Öffentlichkeit bestimmt. Im Hinblick auf die weitere Analyse sind deshalb einige begriffliche Präzisierungen notwendig.
Diese betreffen zunächst die Vieldeutigkeit des Begriffs der Intellektuellen, der, nach einem historischen Vorlauf, am Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der Dreyfus-Affäre in Frankreich geprägt wurde und eine von zahlreichen Kontroversen gekennzeichnete Geschichte als »Schimpfwort« und Selbstverständigungskonzept besitzt.[17] Eine Besonderheit ist darin zu sehen, dass an der Definition des Intellektuellenbegriffs vor