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über die Stein-Hardenberg’schen Reformen bis zum preußischen Klassizismus gereicht hatte. »Preußens Eliten hatten sich im Siege gewissermaßen selbst verloren. Preußen, der harte Rationalstaat des 18. Jahrhunderts, erwies sich als unvereinbar mit dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Preußen hat den Nationalstaat noch begründen, aber nicht mehr prägen können.« (Michael Stürmer) König Wilhelm I. hatte dies instinktiv erfasst, als er am Vorabend der Kaiserproklamation seinem Kanzler unter Tränen bekannte: »Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens. Da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe.«

      Dem neuen Deutschland gelang es nicht, die Bismarck’sche Reichsgründung durch eine gesellschaftliche Integrationsleistung zu ergänzen. Jede Großmacht braucht eine Rechtfertigung, um Anerkennung und nicht bloße Furcht zu wecken. Bismarcks Werk hatte wohl das Recht historischen Geschehens, aber keine Rechtfertigung im Zeichen einer Idee für sich. Das neue Reich appellierte nicht, wie Frankreich und England, an die Phantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben. Es diente keinem werbenden Gedanken. Es stand für nichts, was über die bloße Staatlichkeit hinauswies. Deutscher-Sein enthielt kein Bekenntnis wie Engländer- oder Franzose-Sein; es besagte keinen Dienst an übernationalen Idealen, wie sie durch das christliche Königtum Frankreichs, dessen Zivilisationsidee die große Revolution später in verwandelter Form übernahm, und den Puritanismus repräsentiert wurden. Es war so falsch nicht, wenn Ernest Renan nach dem Deutsch-Französischen Krieg an David Friedrich Strauß schrieb: »Manche Völker hätten ehedem Siege errungen und Imperien gegründet: Spanier, Franzosen, Briten. Jedes Mal habe der politischen Herrschaft eine Ausstrahlung des Geistes entsprochen; der Welt, den Besiegten selbst hätten die Sieger etwas geboten durch ihre ordnende Kraft, ihren Glauben, ihre Kunst, ihren Stil. Dies sei nun das Erschreckende an dem deutschen Sieg: Neu-Deutschland zeige nur Macht, blanke, wirksame, schneidende Macht, ohne jede frohe Botschaft. Sein Triumph sei ein materieller und nichts weiter, und solche Triumphe brächten keinen Segen.« (Zitiert nach Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.) Die bürgerliche Gesellschaft des neuen Deutschen Reiches blieb deshalb eine »Gesellschaft ohne Selbstbewusstsein«. Der nationale Stolz, die Selbstgewissheit waren gebrechlicher als in England oder Frankreich. Verglichen mit dem Selbstbild eines Engländers, hatte ein Deutscher nur ein unbestimmtes Bild von seinem Land und von seinen nationalen Merkmalen. Es gab keinen »way of life«, der auf natürlich-gelassene Art bestimmte, was deutsch war. Die Identifikation fand über keine gemeinsame Weltanschauung, sondern über industrielle und soziale Errungenschaften statt. Das deutsche Selbstbild war im Alltagsleben mit keinem Verhaltenskanon verknüpft, es wurde an Fest- und Feiertagen wie in Krisenzeiten programmatisch entworfen und war damit auf ideologische Krücken angewiesen. Ein aggressiver Nationalismus war deshalb als gesellschaftliches Bindemittel wichtiger als in den alten Nationalstaaten Westeuropas.

      Und da es eine geschlossene Nationalgeschichte, wie sie trotz aller Brüche in England und Frankreich in der »Whig Interpretation of History« wie in der Zivilisationsmission von Königtum und Revolution vorhanden ist, in Deutschland nach der verspäteten Einigung nicht geben konnte, musste die preußische Vergangenheit als identitätsstiftender ideologischer Steinbruch herhalten.

       Friedrich, ein Konservativer?

      Besonders beliebt, aber auch gefährlich war der Rückgriff auf den genialen Friedrich, dessen Untugenden und moralische Schwäche dem neuen Staat als Vorbild dienten. Friedrich wurde zum Neuruppiner Bilderbogen, gefügt aus der existenziellen Härte des Krieges, der Toleranz des Philosophenkönigs, den preußischen Tugenden des ersten Dieners seines Staates und der sozialen Gesinnung eines Volkskönigs. Einwände hiergegen wurden verdrängt. Vergessen schien, was Lessing, der dem König keine Beförderung zu verdanken hatte, an seinen Freund Nicolai schrieb: »Sonst sagen Sie mir von ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben, ja nichts! Sie reduciert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man will…«. Vergessen schien auch, was der König selbst zu den preußischen Tugenden zu Papier brachte. Auf das Gesuch einer Beamtenwitwe um eine Pension gab er uns die schriftlich erhaltene staatserhaltende Bemerkung: »Ich habe den Esel an die Krippe gebunden, warum hat er nicht gefressen?« Und auf das Gesuch eines in Not geratenen Dieners schrieb er: »Der Dummkopf! Ich hatte ihn an die Raufe gestellt, warum zog er sich kein Heu heraus?«

      Theodor Schieder, sein berühmter, ihn preisender Biograph, hatte schon Recht, wenn er schrieb: »Seine Gefühlskälte und sein Zynismus waren oft erschreckend.« Friedrichs Eintritt in die preußisch-deutsche Geschichte im Jahre 1740 bestätigt dieses Urteil. Wie würde man im Privatleben eine Handlungsweise beurteilen, die darauf hinausläuft, dass man die Tochter des Mannes, der einem das Leben gerettet hat, kurz nach dessen Tod auf der Straße überfällt und ausraubt? Gewiss, Vergleiche hinken und Staatsraison ist mit Privatmoral nicht ohne weiteres vergleichbar. Wer an Preußens deutsche Sendung glaubte, für den war dieser Raub eine Notwendigkeit, die Notwendigkeit der aufsteigenden, aufstrebenden Macht. Und doch ist es selbst Bewunderern Friedrichs schwer gefallen, Raub und Annexion Schlesiens zu verteidigen. Thomas Mann hat darüber 1916 in seiner Verteidigungsschrift des deutschen Überfalls auf Belgien zu Recht bemerkt: »Chronisten und Kritiker, welche vor allem ritterlich empfanden, haben dieses Verhalten immer abscheulich genannt.« Der englische Historiker und Friedrich-Biograph Gooch hat den Raub Schlesiens zusammen mit der Teilung Polens zu den sensationellen Verbrechen der Geschichte der Neuzeit gerechnet. Denn es war eben nicht nur eine Frage privater Moralität gegenüber der Kaisertochter Maria Theresia, deren Vater Friedrich vor dem rasenden Zorn des eigenen Vaters bewahrt hatte. Das 18. Jahrhundert hatte sich um die Entwicklung des Völkerrechts bemüht, das eine rechtsgrundlose Annexion unmöglich machen sollte. Selbst die zutiefst ungerechten »Reunionen« Ludwigs XIV., denen auch Straßburg zum Opfer fiel, wurden mit Rechtstiteln begründet, weil nicht einmal der Sonnenkönig sich nackten Raub leisten zu können glaubte. Und gemeinsam hatten die europäischen Staaten Preußen an der Seite des Prinzen Eugen und Marlboroughs in einem langen Krieg den Rechtsbruch der Einverleibung Spaniens durch Frankreich mit den Waffen zurückgewiesen. Friedrich hatte mit seinem Verhalten die Uhr zurückgedreht und den mühsamen Prozess der Zivilisierung von Gewalt abgebrochen. Er war sich über den Charakter seines Tuns durchaus im Klaren. Den Versuch seiner Diplomaten, Rechtstitel zu finden, bedachte er mit der Randbemerkung »Bravo, das ist die Arbeit eines trefflichen Scharlatans«. Und dem französischen Gesandten sagte er: »Melden Sie Ihrem Herrn, dass ich sein Spiel spielen und, wenn ich gute Karten kriege, den Gewinn mit ihm teilen werde.« Es lässt sich nicht leugnen, dieser Gewaltakt bringt erneut etwas Amoralisches in die europäische Politik. Friedrich verachtete religiöse, juristische und humanitäre Hemmungen. Als Handlungsmaxime formulierte der Dreißigjährige: »Als Grundgesetz der Regierung des kleinsten wie des größten Staates kann man den Drang zur Vergrößerung betrachten«, und seinem Freund Jordan nennt er auch seine Motive: »Meine Jugend, die Glut der Leidenschaft, der Ruhmesdurst, ja selbst die Neugier, um Dir nichts zu verhehlen, kurz ein geheimer Instinkt hat mich den Freuden der Ruhe entrissen. Die Genugtuung, meinen Namen in den Zeitungen und später in der Geschichte zu wissen, hat mich verführt.« Und ein Jahr später in der Geschichte meiner Zeit: »Der Besitz schlagfertiger Truppen, eines wohlgefüllten Staatsschatzes und eines lebhaften Temperaments: das waren die Gründe, die mich zum Krieg bewogen.« Dass er dabei der Kaiserin, während seine Truppen bereits marschierten, durch seinen Gesandten mitteilen ließ, dass er nicht die Absicht habe, sie anzugreifen, rundet nur das Bild des Verfassers des Antimachiavell ab. Noch einmal: historische Vergleiche hinken! Und dennoch: Haben wir Schlesien anders verloren, als wir es gewonnen haben? Kann man über die Annexion Schlesiens, was die Rechtmäßigkeit anlangt, kaum streiten, so hat der Beginn des Siebenjährigen Krieges unterschiedliche Deutungen erfahren. Friedrichs Überfall auf Sachsen ist von den einen als notwendiger Präventivschlag, also als Ausbruch aus der Einkreisung gesehen worden, andere haben auch hierin allein das Ziel territorialer Vergrößerung erblickt. Friedrich selbst hatte 1752 in seinem »Politischen Testament«, auf dem Bismarck 130 Jahre später noch »Dauernd geheim halten« vermerkte, davon geträumt, dass Preußen Sachsen und Westpreußen erobern müsse. Allerdings hatte er diese Eroberungen an Bedingungen geknüpft, die 1756 nicht vorlagen. Doch auch der preußische Historiker Delbrück, ein Bewunderer Friedrichs, kommt in seiner Studie über den Siebenjährigen Krieg

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