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Sie schämte sich, und zwar doppelt und dreifach, als in diesem Augenblick jemand in den Spielhof des Heims einbog, ein Jemand, den sie beide gut kannten: Erika! Erika Niethammer! Sie kam zu den Ferien her, und die beiden hatten wahrhaftig vergessen, den Gast abzuholen.

      Da stand Erika, mit Köfferchen und Tasche beladen, heiß und ein wenig vorwurfsvoll. Die letzten wütenden Worte zwischen Reni und Christian hatte sie gerade noch mitgekriegt.

      „Euch kann man auch nicht alleine lassen“, sagte sie und pustete die Haare aus der Stirn, „uff, nichts als unter die Brause! Um was ging es denn wieder mal?“

      „Ach, Christian ist —“

      „Und Reni findet —“

      Reni nahm Erika kurzerhand am Arm und zog sie im Geschwindschritt durch den Hof, dem Duschkeller zu.

      „Das Gepäck bringt Christian. Ja? In mein Zimmer, gelt? Erika wohnt bei mir.“ Weg waren sie.

      Christian sah verärgert auf die beiden Gepäckstücke herunter, zögerte und entschloß sich dann doch, sie den Mädchen nachzutragen. Was blieb auch übrig?

      „... und wenn es Vater erlaubt, kann Mutter auch nichts dagegen haben“, beendete Reni gerade einen Satz von der Länge einer Riesenschlange. Christian kannte ihre Art, zu reden. Als er bei Renis Zimmer anlangte, zu dem die Mädel, Reni noch immer in der neuen Reithose, Erika im Bademantel, zurückkamen, blieb er stehen.

      „Deine Mutter dagegen? Wer ist denn im Leben am meisten geritten?“ hörte er Erika lachend fragen.

      „Ja aber — und sie hat selber gesagt, ich wäre so schrecklich gewachsen, und ich müßte eine neue Hose haben, und — Erika, sag doch selbst, das kann unmöglich was anderes bedeuten, als daß ich nun endlich in —“

      „Du? Na was denn?“

      „Kannst du das wirklich nicht erraten?“

      „In den Reitverein darfst, in dem Christian ist?“

      „Natürlich. Was denn sonst! Christian reitet doch dort schon ewig. Und ich —“

      „Na?“

      „Ich darf höchstens auf den Ponys reiten, und —“

      „Höchstens?“

      „Ach Erika, stell dich doch nicht an wie Fräulein Sonneson, wenn wir maulten, weil wir statt der ewigen Leberwurst auch mal Schinken aufs Zweite-Frühstücks-Brot haben wollten“, rief Reni übermütig. Erika lachte. Ach ja, Fräulein Sonneson, die Hauslehrerin! Sie hatte Erika und Reni ein halbes Jahr lang unterrichtet, als Reni bei Erikas Eltern wohnte, wo Renis Mutter damals angestellt war. Auch jene Zeit, so bitterlich voller Heimweh nach dem Onkel Doktor und dem geliebten Heim am Berge, lustige Stunden hatte sie ihnen trotzdem geschenkt.

      „Weißt du noch, wie wir der Mamsell das Gespenst aufstellten?“

      „Ja, und dann unterm Wehr? Als du das Schlüsselbein gebrochen hast?“

      „Und wie das alte dicke Kutschpferd mitten im Bach stehen blieb, weil es da so schön kühl war, und zu Hause warteten sie mit dem Essen?“

      Erika hatte sich trocken gerubbelt und war in den Luftanzug geschlüpft. Hier im Heim lief man so viel wie möglich in sparsamster Bekleidung herum, das war üblich. Auch Reni mußte sich von ihrer schönen Hose trennen.

      „Aber paß auf, ich trag sie jetzt oft. Jede Woche! Und du kommst mit und guckst zu, wenn wir reiten, Christian und ich. Oder vielleicht bezahlen deine Eltern dir für die Ferien auch ein paar Reitstunden?“

      „Ach, ich weiß nicht. Ich — —“ Erika schwieg. Sie schwieg ausnahmsweise einmal nicht deshalb, weil Reni ihr in die Rede gefallen war, wie sie es meistens tat — sie war allzu stürmisch, auch im Sprechen —, sondern weil sie sich selbst nicht recht darüber klar war, was sie sich wünschte.

      „Meinst du, das wird zu teuer?“ fragte Reni, über die Pause in ihrer Redeschlacht beinah betroffen.

      „Nein, oder doch, auch — aber — — —. Du, Reni, ich glaub, ich trau mich nicht auf richtige Pferde.“

      „Du —?“ Reni blieb der Mund offen. Dann lachte sie. Sie lachte und riß die Freundin an der Hand mit sich, denn sie hatte unten im Hof ein Auto brummen hören.

      „Vater kommt!“ schrie sie aufgeregt, „los, wir müssen unten sein, ehe er aussteigt.“ Und Erika mußte mit, ob sie wollte oder nicht.

      Sie wollte. Auch sie liebte Renis Vater, den Onkel Doktor des Heims, zärtlich und innig, wie eigentlich alle Kinder diesen großen, dicken, beinah häßlichen, aber so unwahrscheinlich gütigen und klugen Mann liebten. ‚Wenn der Doktor hereinkommt, geht ein Fenster mit Sonne auf‘, hatte einmal eine Patientin gesagt. So ähnlich empfanden es alle, die das Glück hatten, mit ihm zusammenzuleben. Tante Mumme, seine Schwester, die früher das Heim leitete, hatte diesen Posten seinetwegen übernommen, Mutter tat ihm zu Liebe, was sie nur konnte. Auch Christian sprang und lief, wenn er ihm einen Gefallen tun sollte. Reni hatte lange unter einer verborgenen, aber nicht totzukriegenden Eifersucht gelitten, wenn sie das mit ansah. Eigentlich war Vater ja ihr Onkel Doktor, ihr, ihr Eigentum, und alle andern kamen an zweiter Stelle. Sie war sein Kind gewesen, so lange sie denken konnte. Tante Mumme hatte sie zwar gefüttert und gekleidet, aber auf des Doktors Knien hatte sie sprechen und lachen, singen und beten gelernt, sein Kind war sie. Er hatte ihr den Unterschied zwischen Gut und Böse, Heiß und Kalt beigebracht, die Namen der Vögel, die im Winter vor dem Fenster am Futterhäuschen pickten, er hatte ihr die Sternbilder gezeigt und ihr von den deutschen Kaisern und Königen, den Dichtern und Musikern erzählt. Das erste Buch, dessen Blätter sie umschlug, hatte er ihr geschenkt — auch das erste kleine Pferd, auf dem sie reiten und die allerersten Anfänge dieser Kunst erfassen durfte.

      Nur „Vater — Vater — Vater —“ hatte es jahrelang in ihrem Herzen geklungen, bis schließlich eine dunkle und angstvolle Zeit ihr auch die Mutter nahe brachte. Noch immer aber saß ganz vorn, ein kleines Stückchen vor Mutter, eben Vater, dieser lustige, verständnisvolle, herzenswarme und unter all diesen Eigenschaften auch sehr ernste Vater, dieser liebste Mensch der Welt. Christian ging es genauso, sie wußte es. Auch Erika.

      „Vater, Erika ist da!“ schrie Reni ihm also entgegen, als er — sie hatte das Rennen gewonnen — sich ein wenig ächzend aus dem Auto quetschte. „Erika, und sie bleibt die ganzen Ferien, und Mutter hat mir ihre Reithose geschenkt, bloß so, ohne jeden Anlaß — sie paßt mir genau, denk, so groß bin ich schon!“ Reni mußte immer alles, was ihr Herz bewegte, vor Vater ausbreiten. „Ich hatte sie eben noch an, wenn ich gewußt hätte, daß du so schnell kommst, hätte ich sie anbehalten —“

      „Donnerschlag, was du immer zu berichten hast“, lachte Vater, nahm ihren Hals schnell in die Armbeuge und drückte ihn ein wenig. „Und Erika ist da? Na so ein Glück. Komm her, zweite Tochter, und mach vor Vatern eine Reverenz!“

      „Guten Tag, und viele viele Grüße von meinen Eltern“, sagte Erika und versank in einem tiefen Hofknicks, der bei ihrem kurzen Lufthöschen sehr komisch wirkte. Sie tat dabei, als hielte sie ein weites, faltenreiches Kleid an den Zipfeln rechts und links und setzte die Füße zierlich voreinander. Reni und Christian klatschten Beifall.

      „Wunderbar, hast du im Winter Tanzstunde gehabt?“

      „Nein, noch nicht. Ich hab dazu überhaupt keine Lust ohne euch! Tanzstunde ohne Freundin ist blöd“, sagte sie. Der Doktor lachte.

      „Bleib doch bei uns, für immer! Wie wär’s? Da könnt ihr im Winter zusammen übers Parkett schweben, in diesem, oder im nächsten, wie ihr mögt.“

      „Schön wär’s!“ seufzte Erika, „aber —“

      „Aber, ach ja! Das Leben besteht aus Abern“, ahmte der Doktor ihre Sprechweise nach. „Kommt, meine Kinderlein, wollen sehen, was Mutter uns bescheret zum lecker bereiteten Mahl. Sag’s griechisch, Christian!“ fuhr er, übertrieben plötzlich, seinen Sohn an.

      Christian grinste.

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