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Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan
Читать онлайн.Название Aufstieg der Schattendrachen
Год выпуска 0
isbn 9783968267012
Автор произведения Liz Flanagan
Серия Legenden der Lüfte
Издательство Bookwire
»Ein schöner Herzog bist du!«, rief einer. »Dass du so etwas zulässt. Du bist unfähig.«
»Eine Generalin, die nicht einmal ihren kleinen Bruder in Schach halten kann?«, schrie ein anderer. »Sie kann keine Armee führen, weder in diesem Zustand noch überhaupt!«
Einer von ihnen stand abseits und beobachtete Jo, wie dieser dem Chaos zusah.
Das hier war sein Werk. Scham stieg in ihm auf und trieb ihn zur Flucht. Er drängte sich durch die panische Menge, bewegte sich gegen den Strom hangabwärts, fort von der Stadt. Die Leute wandten sich angstvoll von ihm ab. Ihre Gesichter zeigten ihm deutlich, dass sie ihn für ein Monster hielten. Entsetzt schob er sich immer ungestümer durch das Gedränge. Sein Atem ging keuchend, sein ganzer Körper war erfüllt von brennender Wut und Reue.
Seine neue weiße Jacke war zerrissen. Er war froh darüber. Diese lächerliche Kluft stand für das, was er jetzt war: ein Versager. Ein Watschler. Er würde verschwinden. Nach Hause konnte er nicht mehr, nicht nachdem er die entsetzten Gesichter seiner Eltern gesehen hatte. Und ohne einen eigenen Drachen würde er seinen Freunden niemals in die Drachenhalle folgen können.
Jo flüchtete von der Zeremonie, die er ruiniert hatte. Was er getan hatte, war nicht wiedergutzumachen.
6. Kapitel
Jo hatte keine Ahnung, wohin er lief. Angetrieben von Wut und Schuldgefühlen, rannte er einfach immer weiter und weiter durch die Hafenanlagen von Arcosi, die in der brütenden Hitze verlassen dalagen. Er hatte die Stadt noch nie so still erlebt. Das einzige Geräusch waren seine lauten Schritte, die durch die schmalen, gewundenen Gassen hallten.
Er erreichte den Stadtrand, wo die Häuser und Geschäfte den Lagerhallen Platz machten, von denen aus man den Hafen überblickte. Einige von ihnen gehörten immer noch seinem Vater. An ihn durfte Jo im Augenblick nicht denken. Er rannte weiter, Richtung Westen, dorthin, wo keine Gebäude mehr standen. Er überquerte den flachen Strand, an dem er schwimmen gelernt hatte. Durch den weichen, goldenen Sand wurden seine schweren Füße noch langsamer. Mit diesem Ort verband er nur gute Erinnerungen – er hatte in der Brandung gespielt; war im klaren blauen Wasser Schwärmen von kleinen silbernen Fischen nachgejagt und bis zu den alten, verwitterten Felsen hinausgeschwommen, die den Strand säumten. Die zerklüfteten Steinbögen sahen aus wie eine sich windende Schlange. Heute jedoch quälte ihn die Schönheit dieses Ortes. Sie gehörte zu seinem alten Leben, und das gab es nicht mehr.
Er wandte sich ab und begann, die felsige Landzunge hinaufzuklettern, bis er vom Strand aus nicht mehr zu sehen war. Er hielt erst an, als er weit in den unbewohnten Teil der Insel vorgedrungen war. Dort, hoch oben auf dem steilen Hang, blieb er schließlich stehen. Seine Wut war verpufft. Er war am Ende.
Bis auf die fernen Schreie der Möwen war es still. Er sah nur Meer und Himmel, fühlte nichts als das frühlingszarte Gras und die Felsen. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und bedeckte den Kopf mit seinen verletzten Händen. Seine Haut brannte wie Feuer, aber das schien ihm eine gerechte Strafe. Seine Hoffnungen waren zerstört. Seine Zukunft verloren. Er wusste nicht einmal mehr, wer er war. Jemand, der sich von seinen Freunden abgewandt hatte. Der sich nicht für sie freuen konnte. Der um ein Haar ein Drachenjunges getötet hätte und unschuldigen Menschen Schaden zugefügt hatte. Er konnte die Blicke nicht vergessen, mit denen sie in panischer Angst vor ihm davongelaufen waren.
Stundenlang lag Jo so da, bis sich der Himmel grau-violett verdüsterte und sich ein Sturm ankündigte.
Schließlich fand er die Kraft, sich aufzusetzen. Er kam sich vor wie eine vom Meer ausgewaschene Muschel: so leer, dass fast nichts mehr von ihm übrig war. Er schluckte mühsam. Sein Hals tat weh. Seine Lippen waren ausgetrocknet und rissig. Er war hungrig und fast am Verdursten. Er tastete seine Taschen ab, hatte aber nichts Essbares bei sich.
Als er sich umsah, entdeckte er ein Stück entfernt einige niedrige Büsche. Er kroch hinüber und war erleichtert, als er die orangefarbenen Sanddornfrüchte sah, die sich an den knorrigen Zweigen drängten. Er riss sie ab – die bittere Säure explodierte in seinem Mund – und aß, bis er Bauchschmerzen bekam und seine Finger von den Dornen bluteten. Nachdem er gegessen hatte, konnte er etwas klarer denken, es reichte gerade, um sich den nächsten Schritt zu überlegen. Wenn er überleben wollte – und ein kleiner, störrischer Teil von ihm bestand darauf –, musste er für die Nacht einen Unterschlupf finden.
Über ihm befand sich ein felsiger Überhang, unter dem sich ein dunkles Loch auftat. War dort eine Höhle? Noch während er hinschaute, löste sich etwas aus dem Schatten und flog eine wilde, schwirrende Schleife über den dunkelblauen Himmel. Eine Fledermaus! Dann musste dort eine Höhle sein. Trocken und sicher.
Jo kletterte auf den dunklen Höhleneingang zu. Das letzte Stück war sehr steil. Er schaute lieber nicht nach unten. Mit brennenden Armen und wackligen Beinen zog er sich hinauf, bis das Gras unter seinen Fingern in Kiesel und schließlich in Felsen überging. Der Eingang war größer, als er vermutet hatte, also stand er auf und ging hinein. Trotz seiner weit aufgerissenen Augen sah er nicht das Geringste. Es war, als wäre er blind geworden. Aber die Höhle war trocken und kühl und der Boden sandig. Jo machte noch ein paar Schritte, blieb dann stehen und lauschte. Der Raum fühlte sich jetzt anders an. Luft strich über sein Gesicht. Diese Höhle musste riesig sein.
»Aaah!« Etwas streifte seine Haare. Sein Herz klopfte so laut, dass er kaum noch klar denken konnte. Das ist eine Fledermaus, sagte er sich. Bloß eine Fledermaus. Als sich sein Puls wieder beruhigt hatte, hörte er die Tiere weiter rechts. Es war ein wuseliges Geräusch, das nicht aus unmittelbarer Nähe kam: tausend schrille Rufe. Hier drinnen musste es eine ganze Kolonie geben. Aber das machte ihm nichts aus. Er mochte Tiere und war mit ihnen schon immer besser zurechtgekommen als mit Menschen.
Da Jo kein Licht bei sich hatte und sich nicht verirren wollte, ging er nicht allzu tief in die Höhle. Der Raum weitete sich, und links von ihm befand sich eine sandige Kuhle. Er kniete sich hin und tastete sich um den Felsen. Der Platz war gerade groß genug für ihn. Ein schmales Bett für die Nacht. Er legte sich hinein. Endlich war dieser schreckliche Tag zu Ende.
Als Jo erwachte, strahlte das Mondlicht durch den Höhleneingang. Er stöhnte, war ganz steif und kalt, und die Verbrennungen in seinem Nacken und an den Händen brannten immer noch höllisch. Er zwang sich, nach draußen zu kriechen. Dort stand er auf und schüttelte sich und seine verkrampften Beine, bis er wach war. Durch das Licht des Vollmonds, das sich schimmernd im tintenschwarzen Meer spiegelte, war es fast taghell. Das war die perfekte Gelegenheit, begriff er benommen. Jetzt konnte er ungesehen nach Hause gelangen.
Als er durch die leeren Straßen huschte, kam er sich vor wie ein Geist. Er sah nur eine Katze und einmal aus den Augenwinkeln einen huschenden Schatten, der aber schon verschwunden war, als er sich umdrehte. Jo mied das Haupttor des Gelben Hauses und kletterte über die rückseitige Gartenmauer. Am Küchenbrunnen fiel er auf die Knie. Er tauchte die Hände in das klare, kalte Wasser und ließ sie dort, bis das Brennen endlich aufhörte. Dann füllte er einen Eimer und trank gierig, bis sein Magen rebellierte. Dass das Wasser dabei an ihm herunterlief, störte ihn nicht. Anschließend stand er auf und sah sich um.
Er hörte das leise Gemurmel des Nachtwächters, der am Haupttor mit jemandem sprach.
Im Haus war es still, die Lichter gelöscht. Alle schienen zu schlafen.
Sollte er zu seinen Eltern gehen und sie um Verzeihung bitten?
Doch dann fiel ihm wieder ein, was er getan hatte.
Und was er fast getan hätte.
Nein. Er rührte sich nicht von der Stelle.
Er hatte sie stolz machen wollen. Stattdessen hatte er Schande über sie und über seine Geschwister