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      Conor und Amina wechselten einen besorgten Blick.

      »Also gut, Noah.« Conor wandte sich an den Jüngeren und sagte freundlich: »Jetzt ist es an den Drachen. Sie werden wählen, wen sie wollen.«

      »Ich bin ein echter Norländer, kein Halbling wie Jo oder zugereist wie ihr beide. Natürlich wird mich ein Drache auswählen.«

      Vor der Revolution, unter der Herrschaft des alten Herzogs, waren auf der Insel Menschen norländischer Abstammung privilegierter und wohlhabender gewesen als alle anderen.

      »Ach, das interessiert doch niemanden mehr«, sagte Jo, der sich eine schärfere Erwiderung verkniff. Er hatte die blauen Augen seines Vaters und die schwarzen Haare seiner Mutter geerbt, während seine Haut hellbraun war. Manchmal irrten sich die Leute bezüglich seiner Herkunft. Aber er war noch nie so beleidigt worden, zumindest nicht von Angesicht zu Angesicht. »Halbling?«, wiederholte er und versuchte es mit einem Lachen abzutun. »Hast du dir das ausgedacht?« Der Begriff klang lächerlich.

      »Das glaubst auch nur du!«, sagte Noah. »Aber wart’s nur ab –«

      Einer der Drachenwächter kam mit finsterer Miene auf sie zu. Sie verstummten. Keiner von ihnen wollte ausgeschlossen werden. Schon gar nicht jetzt, im allerletzten Moment.

      »Worauf warten die noch? Ruft uns endlich auf den Platz!«, murmelte Noah, als der Drachenwächter weitergegangen war.

      Jo schaute nach vorn, um zu sehen, was los war.

      Isak sprach mit der Mutter der Eier, dem wilden schwarzen Drachenweibchen Ravenna, das sich mit Lanys verbunden hatte. Früher hatte Lanys im Gelben Haus als Dienstmädchen gearbeitet und Isak bedient. Mit Milla hatte sie im ständigen Konkurrenzkampf gestanden. Jetzt stand die junge Frau steif und mit hochgezogenen Schultern da und starrte alle finster an.

      Gab es ein Problem? Jo musterte Lanys: Ihr sommersprossiges Gesicht war bleich vor Sorge, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr rotbraunes Haar war straff nach hinten geflochten, jeder Muskel in ihrem Körper angespannt. Jo konnte nur erahnen, wie schwer es sein musste, seinem eigenen Drachen bei der Brut zuzusehen, ohne helfen oder sich ihm nähern zu können. Brütende Drachenmütter waren gefährlich, das wussten alle. Ihr Beschützerinstinkt war so mächtig, dass sie jeden verletzen oder töten würden, der ihren Eiern zu nahe kam.

      Es gab ein Gerücht, dass jemand kurz nach der Rückkehr der Drachen ein Ei zerstört hatte. Die Drachenmutter hatte reagiert und die Person getötet, ehe irgendjemand sie aufhalten konnte. Jo sah Ravenna an und begriff bestürzt, dass die anderen Drachen vor Ort waren, um die Anwärter zu schützen, nicht die Eier.

      Lass uns durch, dachte er, als er Lanys ansah. Lass einfach zu, dass wir uns mit den Drachenjungen verbinden, dann bekommst du deine Ravenna zurück.

      Als hätte sie ihn gehört, drehte sich Lanys um und starrte die wartenden Anwärter noch finsterer an als alle anderen.

      Schließlich wandte sich Isak von Ravenna ab. Er richtete sich auf und sagte mit lauter Stimme: »Willkommen zur sechsten Schlüpfzeremonie in der Regierungszeit von Herzog Vigo …«

      Applaus brandete auf, und der Jubel hallte auf dem Marktplatz wider.

      Dann war er da, der Moment, auf den Jo sein Leben lang gewartet hatte.

      3. Kapitel

      Es war so weit. Jo stellte sich auf die Zehenspitzen, damit er zuschauen konnte, wie die Dracheneier aufgedeckt wurden.

      Nun trat Herzog Vigo vor. Er wirkte ernst und unnahbar. Nicht wie der ruhige, freundliche Mann, den Jo von den Familientreffen kannte. Seine tiefe Stimme drang bis in die hintersten Reihen der Menge. »Bürger von Arcosi, liebe Gäste aus Sartola, ich heiße euch alle willkommen.«

      Sämtliche Augen richteten sich auf Isaks Partner Luca, den König von Sartola, der in der vordersten Reihe neben Tarya stand. Luca nickte und winkte der Menge bei der Begrüßung lächelnd zu.

      »Wir können uns glücklich schätzen, mit diesem Gelege gesegnet worden zu sein«, fuhr Herzog Vigo fort. »Und wie alle wissen, ist dies eine heilige Zeremonie, die dem Schutz des Gesetzes unterliegt.« Der Herzog machte ein strenges Gesicht, als er diese offizielle Erinnerung aussprach. Einen Moment lang herrschte völlige Stille.

      Jo fragte sich, ob er damit auf die Bruderschaft abzielte. Er schaute sich eilig um, konnte aber niemanden in Schwarz entdecken.

      Dann, als würde die Sonne hinter einer Wolke hervorkommen, lächelte der Herzog, und seine Miene veränderte sich völlig: »Lasst die Zeremonie beginnen!«

      Isak zog das schützende Tuch von den Eiern.

      Es waren fünf! Jo zählte und zählte noch einmal, um wirklich sicherzugehen.

      Der ganze Markt wurde von einem ehrfürchtigen, erwartungsvollen Geraune erfüllt.

      Fünf Eier. Zehn Anwärter. Die Hälfte von ihnen würde in die Drachenhalle einziehen. Die andere Hälfte niedergeschlagen nach Hause gehen. Jo hielt den Atem an und betete, dass weder er noch Conor oder Amina zu Letzteren gehörten.

      Es gab ein cremefarbenes Ei, ein blaugrünes, ein goldgelbes und, was sehr ungewöhnlich war, zwei gleichfarbige: Beide waren hellviolett. In gewisser Weise war das eine Art Purpur – zwar nicht das tiefrote Purpur aus Jos Träumen, aber es kam dem recht nahe.

      Ich komme, sagte er im Stillen zu den Eiern und den darin wartenden Drachen.

      Milla stand in der ersten Reihe hinter ihrem riesigen blauen Drachen. Sie beugte sich an Iggies Hals vorbei, um Jo zuzulächeln, und formte mit den Lippen »Viel Glück!«.

      Noch immer bewegte sich niemand.

      Warum diese Verzögerung? Jo rieb sich den Nacken. Die heiße Sonne brannte auf seiner Haut. Sie juckte förmlich vor Ungeduld. Sein Gesicht glühte. Um sich abzulenken, musterte er die Menge, und sein Blick blieb an dem einzigen Gesicht hängen, das kummervoll aussah. Es gehörte Winter, einer der Drachenlosen. Sie hatte ihren Drachen während des Großen Drachensterbens vor zwei Jahren verloren. Damals waren auch einige Drachenlose gestorben. Die meisten waren jedoch von der Insel geflohen, weil sie nicht mit der Erinnerung an ihren Verlust leben konnten. Nur Winter war geblieben.

      Es gab Gerüchte über einen Geist in dem verlassenen Wohnquartier im Nordwesten der Insel – dem Schattenviertel –, aber Jos Eltern hatten immer gesagt, dass es nur Winter sei, die in ihrem grauen Kleid und einem dunklen Umhang aus den Schatten auftauchte und wieder verschwand.

      Ihre Mutter lebte immer noch in der Unterstadt, aber Winter lief Tag und Nacht durch die Straßen und sprach mit ihrem toten Drachen Jin. Die Menschen waren freundlich zu ihr, begleiteten sie sanft nach Hause und gaben ihr zu essen, dennoch war sie hager und abgerissen wie eine Vogelscheuche und wirkte wesentlich älter als vierzehn.

      Normalerweise sah sie mit ihren grauen Augen einfach durch die Menschen hindurch. Heute aber fiel ihr Blick auf Jo, und was dieser darin sah, war unerträglich: abgrundtiefer, unvorstellbarer Schmerz. Er musste den Blick abwenden.

      »Anwärter! Kommt und setzt euch im Kreis auf den Boden. Aber nicht zu nah. Lasst den Eiern Platz«, rief Isak sie endlich heran.

      Die Menge hielt den Atem an. Alle Augen waren auf die Anwärter gerichtet. Conor führte sie an.

      Jo wusste nicht mehr, wie man lief. Sein ganzer Körper hatte sich in Blei verwandelt. Die Blicke der Zuschauer lasteten schwer auf ihm.

      Amina schob ihn sanft vorwärts.

      Schwitzend und unbeholfen setzte er sich in Bewegung. Er trat Conor auf die Ferse, der unterdrückt fluchte.

      Dann blieb er abrupt stehen, sodass Amina in ihn hineinlief.

      »Jo! Reiß dich zusammen«, flüsterte sie.

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