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schluckte und musste würgen, so bitter schmeckte die Flüssigkeit. Er fragte sich, ob er vergiftet wurde. Aber es war ihm egal, denn der Schmerz verschwand unter einer wunderschönen Decke aus Nichts.

      Als er wieder zu sich kam, schmeckte sein Mund, als wäre eine Ratte darin verendet, aber der Schmerz hatte nachgelassen, und er konnte wieder klar denken.

      Er schlug die Augen auf, stützte sich auf seinen linken Ellbogen und starrte in das Gesicht von Winter, der Drachenlosen. Jenem Mädchen, das er bei der Zeremonie gesehen hatte und das wie ein Geist auf der Insel umherwanderte.

      Winter war größer als er selbst und schrecklich dünn, ihre sehr glatten schwarzen Haare fielen ihr wie ein Vorhang vors Gesicht. Sie hatte große graue Augen und den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen.

      »Da bist du ja wieder«, sagte sie. »Geht’s dir besser?«

      »Ein bisschen«, brachte Jo mühsam hervor. »Hast du …?«

      »Dich hierhergezogen? Ja. Dir Wasser gegeben? Arznei? Ja. Ja.«

      Sie schien stärker zu sein, als sie aussah.

      »Danke. Was ist passiert?«, fragte Jo.

      »Hast dir den Kopf gestoßen. War mir nicht sicher, ob du’s schaffst. Hab versucht, deine Wunde zu säubern.«

      Jo hob die Hand und zuckte zusammen, als er mit den Fingern über seinen Hinterkopf wanderte und verklebtes Haar und getrocknetes Blut ertastete. Wieder explodierte der Schmerz.

      »Keine gute Idee. Wird dir schlecht?«

      Jo schluckte die Übelkeit hinunter und konzentrierte sich aufs Atmen: ein, aus, ein, aus. Er war am Ende. Aber nicht allein.

      »Danke«, sagte er noch einmal. »Ich bin Jo.« Das zumindest wusste er noch, auch wenn vieles andere im Dunkeln lag. Er verspürte ein merkwürdiges Unbehagen, als würde bald etwas Schreckliches passieren. Wenn er bloß wüsste, was.

      »Winter«, erwiderte sie.

      Jo sagte ihr nicht, dass er ihren Namen kannte. Wie mochte es sich für sie wohl anfühlen, Winter zu sein, von der alle wussten, wer sie war und was es mit ihr auf sich hatte?

      »Lebst du hier unten?«, fragte er stattdessen.

      »Manchmal. Ich bleibe gern in Bewegung. Dafür sind diese Tunnel ideal.«

      Deshalb hielten die Leute sie also für einen Geist. Die Tunnel hatten bestimmt noch andere Ausgänge, vermutete Jo. »Wie lange weißt du schon von den Tunneln?«, fragte er Winter.

      »Seit …« Das eine Wort genügte. Ihr Kummer schien sich nach allen Seiten auszubreiten.

      … seit sie vor zwei Jahren ihren Drachen Jin beim Großen Drachensterben verloren hatte. Jo wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.

      Eine Erinnerung tauchte auf: Winter bei der Schlüpfzeremonie. Und dann brachen plötzlich sämtliche Ereignisse der letzten Tage wieder über ihn herein. Jo erinnerte sich an alles. Er sackte zusammen, schloss die Augen und atmete durch den Schmerz. Er legte einen Arm über die Augen, als könnte er auf diese Weise alles ausblenden: seinen Zorn und die Folgen. Die Scham seiner Eltern. Und dass alle davon wussten.

      Eine ganze Weile rührte sich keiner von beiden, bis Jos Magen ein lautes Knurren von sich gab. Wann hatte er seine letzte ordentliche Mahlzeit zu sich genommen?

      »Du musst essen«, sagte Winter, die ihm etwas hinhielt. »Es ist drei Tage her, dass ich dich gefunden habe.«

      »Drei Tage!« Jo nahm es, stopfte es sich in den Mund – irgendetwas Gebratenes in einem trockenen Mehlfladen – und schluckte es hinunter. »Danke.« Er fühlte sich fast augenblicklich besser, seine Gedanken wurden klarer.

      Vor vier Tagen hatte er seine Eltern das letzte Mal gesehen. Er war noch nie so lange von zu Hause fort gewesen. Seine Sehnsucht war wie ein Ziehen in der Brust, und er bekam kaum noch Luft.

      »Was ist?«, fragte Winter.

      »Meine Familie. Sie fehlt mir.« Er musste lernen, besser damit klarzukommen, mit diesem neuen Leben, für das er sich entschieden hatte. »Aber ich kann nicht zurück … nicht, bevor ich etwas getan habe, etwas Gutes«, endete er unbeholfen.

      Über Winters Gesicht huschte ein mitleidiger Ausdruck. »Es gibt ein Gerücht.«

      »Was für ein Gerücht?« Was erzählten die Leute über ihn?

      »Ein Schiff ist gesunken. Im Sturm.« Winter klang abgehackt. »Mit dir an Bord, glauben sie.«

      »Man hält mich für tot?« Jo begann zu zittern.

      Winter nickte. »Du wurdest gesehen. Im Hafen.«

      »Aber niemand wollte mich mitnehmen!«, rief er. Dann begriff er, dass es so vielleicht am besten war. Er durfte nicht zurückkehren und seinen Eltern abermals wehtun. Er durfte es nicht noch schlimmer machen, durfte sie nicht noch stärker beschämen. Er rieb sich das Gesicht und zuckte zusammen, so sehr schmerzten seine Schulter und die Brandwunden.

      »Wie fühlst du dich?« Winter griff ihm an die Stirn. »Ist bloß die Kälte und der Schock. Kein Fieber.« Sie wirkte zufrieden.

      »Warum hilfst du mir?«, fragte Jo, als er sich wieder aufrichtete. »Ich meine, ich bin dir dankbar, ich … Danke!« Aber was hatte sie davon?

      »Ich habe dich gefunden.« Winters Augen leuchteten im flackernden Licht.

      Jo musterte sie. Mit ihrem dunklen Umhang erinnerte sie ihn an eine Amsel, vielleicht auch an einen Sperling, der herumsprang und sich, jederzeit fluchtbereit, unentwegt unruhig umsah.

      »Warum sollst du sterben, wenn ich es verhindern kann?«, fuhr Winter fort. Unter seinem Blick wurde sie plötzlich ganz unruhig, als hätte sie ihren Tagesvorrat an Worten aufgebraucht und müsste losgehen, um neue zu suchen. Den Kopf auf diese vogelhafte Weise zur Seite geneigt, sagte sie: »Ich muss los. Eine Decke suchen und mehr zu essen.«

      »Warte!«, rief Jo. »Bitte. Hat der Junge, der bei der Schlüpfzeremonie überrannt wurde, überlebt?«

      Sie war bereits aufgebrochen und murmelte auf dem Weg durch den Gang: »Ja. Er hat überlebt. Und du musst das auch.«

      Die Lampe erlosch. Unendlich erleichtert über diese Neuigkeit lag Jo einfach da. Es gab nichts, was er noch tun konnte – er saß in der Dunkelheit fest. Sein altes Leben war vorüber. Er hatte es spektakulär vermasselt, aber zu Ende war es nicht. Er durfte seinen Eltern nicht mehr wehtun. Das war der Neuanfang, nach dem er gesucht hatte. Er würde von vorn beginnen und lernen, seine Wut zu kontrollieren, damit er niemanden mehr verletzte.

      Es war, wie der Nachtwächter Gabriel gesagt hatte: Für seine Eltern wäre es besser, wenn Jo tot war. Und das dachten sie nun. Das war sein Geschenk an sie. Er würde tot bleiben, bis er zu jemandem geworden war, auf den sie stolz sein konnten.

      10. Kapitel

      Jo und Winter entwickelten eine Art Rhythmus. Winter besorgte einfaches, aber gutes Essen: Käse, Brot, Sardinen, Birnen. Jo aß und schlief und kam langsam wieder zu Kräften. Manchmal war Winter schon da, wenn er aufwachte, dann wechselte sie die Verbände an seinen verbrannten Händen und hielt seine Kopfwunde sauber. Aber meistens war er allein. Er hatte keine Ahnung, wie viele Tage verstrichen: Im Innern der Höhle gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Immer wieder gingen ihm während seines unruhigen Schlafs große Zeitabschnitte verloren. Manchmal erwachte er schreiend und schlug auf sich ein, weil er zu brennen glaubte. Doch langsam, ganz langsam ließ er sein altes Leben los, um das er in Träumen und Albträumen trauerte.

      Dann stellte er eines Tages fest, dass er wieder stehen konnte, ohne zu schwanken. Seine Schulter brauchte mehr Zeit zum Heilen. Winter fixierte seinen Arm in einer Schlinge, und Jo versuchte, ihn einfach

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