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aufzunehmen: eine nach der anderen. Das obere Ende erschien ihm immer noch sehr weit weg.

      Jo begriff, dass Winter nur ungern lange Gespräche führte. Wenn sie da war, brachte sie zwei, drei kurze Sätze zustande, ehe sie einen gehetzten Blick bekam und die Flucht ergriff.

      In den einsamen Stunden kamen Jo immer mehr Fragen. Wenn er allein war, legte er sich seine Worte sorgfältig zurecht und polierte sie, bis sie wie Goldstücke glänzten, damit er auf Winters Rückkehr vorbereitet war.

      »Kennst du alle Tunnel?«, fragte er.

      »Noch nicht. Ich lasse mir Zeit beim Erkunden«, erklärte sie. »Ich will mich nicht verirren.«

      »Wie weit reichen sie?«

      »Weit.«

      »Welchem Zweck dienen sie?«

      Winter zuckte die Achseln. »Der Flucht.«

      Bezog sich das auf sie beide oder jemand anderen? Jo wollte noch mehr fragen, aber Winter äugte bereits zum Durchgang und stand auf.

      Eines Tages quälte ihn die Langweile, und sein Kopf juckte schrecklich. Er beschloss, auf Erkundungstour zu gehen, aber auf halbem Weg die nächstgelegene Steintreppe hinauf versagten ihm die Beine. Er kroch gerade in die Kammer zurück, als Winter eintraf. Er hätte schreien können vor Schmerzen und Frustration. Er schleppte sich in die Kammer zurück, sackte an der Wand zusammen und hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, um seine Wut nicht herauszuschreien. Sie brannte wie Feuer. Und genau wie ein Feuer musste er sie in Schach halten und kontrollieren. Ansonsten würde sie ihn verschlingen und anderen Menschen schaden. Das hier war sein Neuanfang, den würde er nicht vermasseln. Er atmete tief ein und aus, bis er sicher war, dass der Schmerz ihn nicht überwältigte.

      Winter stand einfach nur da und sah ihn auf ihre stille Art an.

      Plötzlich verspürte er den Wunsch, mehr über sie zu erfahren. Was wollte sie? Was tat sie? An seinem Geburtstag hatte sie seinen schlimmsten Moment miterlebt, und trotzdem hatte sie ihm geholfen.

      »Als ich dich neulich gesehen habe«, sagte Jo, »bei der Schlüpfzeremonie –« Es schoss aus ihm heraus, ehe er es verhindern konnte. Er wartete darauf, dass Winter sich zurückzog und ihm ihre Missbilligung zeigte.

      »Ja?«, fragte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Mit einem Fuß klopfte sie unruhig auf den Boden.

      »Also, ich bin nicht so. Normalerweise. Ich habe einfach die Beherrschung verloren.« Er wappnete sich gegen ihre nächsten Worte. Gegen ihre Abweisung. »Ich wollte das alles nicht.«

      Sie schwieg.

      »Schau uns nur an, uns zwei Drachenlose.« Er bereute die Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte. Wie konnte er sich nur mit ihr vergleichen? Sie hatte einen Drachen gehabt, der gestorben war, ihn hingegen hatte keiner gewählt.

      Ein Schatten wanderte über Winters Gesicht, aber sie zuckte nicht mit der Wimper.

      »Entschuldige! Tut mir leid, ich wollte damit nicht sagen, dass es uns gleich ergeht. Es ist bloß … Ich habe mich gefragt … Fast alle Drachenlosen haben die Insel verlassen. Nur du nicht … Warum bist du geblieben?«, fragte er so behutsam wie möglich.

      Sie sah ihn an, ohne auch nur zu blinzeln.

      Es war Jo, der als Erster den Blick abwandte. Seine Wangen brannten vor Verlegenheit über seinen unbeholfenen Kennenlernversuch. Er hätte sie nicht bedrängen sollen. Sie würde es ihm sagen, wenn sie so weit war.

      Winter legte ihre Essenspakete ab und ging.

      Ob sie wohl zurückkommen würde, fragte sich Jo. Es folgten lange, dunkle Stunden. Er holte sein Messer heraus und begann auf die Höhlenwand einzustechen, um seinen Frust abzulassen.

      Wenn Winter nicht zurückkam – und warum sollte sie? –, hatte er die Wahl: Er konnte allein hier unten verhungern oder durch die langen Tunnel zurück ans Tageslicht kriechen, was am Ende womöglich auf das Gleiche hinauslief.

      Er hackte weiter auf die Wand ein, um seine Hände zu beschäftigen, während seine Gedanken im Kreis jagten.

      Warum hatte er das nur gesagt? Er wusste, dass sie um ihren Drachen trauerte. Man sah Winter an, wie verletzlich sie war. Aber gleichzeitig war sie auch sein Rettungsanker.

      Er starrte auf das Loch, das er in die Höhlenwand gemeißelt hatte. Es ähnelte dem Umriss der riesigen Kammer, die er die unterirdische Drachenhalle genannt hatte. Das brachte ihn auf eine Idee. Er fügte einen Strich hinzu, der auf die Kammer zulief, und meißelte die kleine geschwungene Stelle ein, an der er in der ersten Nacht geschlafen hatte.

      Als er einige Stunden später Schritte vernahm, rollte er sich erleichtert auf den Rücken und blieb einen Moment so liegen.

      »Du bist wieder da! Oh, danke! Ich dachte, du würdest vielleicht nicht …« Jo merkte, dass er schon wieder drauflosschwatzte. Er riss sich zusammen und verstummte. Diesmal stellte er keine Fragen. Er lächelte und wartete, dass sie den Mund aufmachte.

      Das klappte besser. Wenn er Winter Zeit ließ, flossen die Worte fast mühelos. Vielleicht war sie einfach nur aus der Übung, überlegte Jo. Er schaffte es sogar, sie zum Lächeln zu bringen.

      »Nun sag schon«, sagte Winter nach einer Weile. »Was willst du wissen?«

      »Wissen worüber?«

      »Über meinen Drachen. Du wolltest mich doch fragen. Also hast du heute eine Frage frei.«

      »Wie hat es sich angefühlt, als er geschlüpft ist?« Es war, als drückte er auf einen Bluterguss, aber er musste es wissen. »Wie fühlt es sich an, wenn man sich mit einem Drachen verbindet?«

      »Gewaltig, aber irgendwie auch selbstverständlich. Als würde man auf einer Welle dahingleiten. Außerdem hing mein Leben davon ab. Genau wie vom Atmen«, erwiderte Winter und verschwand.

      Am nächsten Tag hatte Jo wieder eine Frage frei.

      »Wusstest du es, bevor er aus dem Ei geschlüpft ist?« Diese Frage zu stellen, schmerzte ihn, und es schmerzte Winter offensichtlich, sie zu beantworten.

      »Ja«, sagte sie und ließ sich Zeit. Ihre Augen waren riesig und glänzten. »Mir ging es nur um Jins Ei, nicht um die anderen.«

      Überraschenderweise fühlte sich Jo dadurch besser. Er hätte sich bei der Zeremonie nie mit einem der Eier verbinden können – das hätte ihm klar sein müssen. Von da an war er ruhiger, wenn er daran dachte. Er hörte auf, immer wieder darüber nachzugrübeln, was er am Tag der Schlüpfzeremonie getan hatte.

      Die Tage verstrichen. Jo freute sich auf Winters Besuche. Sie blieb jedes Mal ein wenig länger und erzählte ihm mehr. So geräuschlos wie der Wechsel der Jahreszeiten ging ihre Fremdheit in Freundschaft über.

      »Bald bist du wieder gesund«, sagte Winter eines Tages, nachdem sie über Jos Imitation des Bäckers gekichert hatten. »Dann kannst du die Tunnel wieder hinaufsteigen und in die Stadt zurückkehren.«

      »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht zurück.«

      »Du hast dort oben ein Zuhause.«

      »Nicht mehr. Kann ich nicht hierbleiben?«, fügte er leise hinzu. »Es gibt Platz genug für uns beide. Platz genug für die ganze Stadt.«

      »Aber es ist mein Zuhause. Sicher. Und geheim.« Sie schüttelte ihren schwarzen Haarvorhang so, dass er ihr Gesicht verdeckte.

      Sie versteckte sich.

      Das war es, was sie tat, begriff Jo. Sich zu verstecken hatte ihr in den vergangenen beiden Jahre Schutz geboten und erlaubt, in Frieden zu trauern.

      »Ich weiß, ich weiß! Und daran wird sich auch nichts ändern. Ich werde es niemandem erzählen, versprochen!« Er versuchte es ihr zu erklären. »Ich kann nicht zurück nach Hause, nicht bevor ich mich verändert habe, bevor ich etwas getan habe, auf das ich stolz sein kann.«

      Er

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