Скачать книгу

aber sie tat bestimmt sehr weh. Amie konnte es ja kaum ertragen, wenn man ihr Bein nur streifte!

      „Wirklich gemein von ihm“, sagte eine Stimme hinter Malins Rücken. „Du kannst doch nichts dafür!“

      Malin schüttelte den Kopf, ohne sich umzusehen. Sie hörte ja, daß es Kattis war, der Silver gehörte, der New Forest Wallach.

      „Mach dir nichts draus“, fuhr Kattis fort. „In ein paar Wochen ist Amie bestimmt wieder gesund. Vielleicht schon in ein paar Tagen.“

      Der Tag, an dem Malin zu Unrecht beschuldigt worden war, daß sie eine leere Bonbontüte auf ihren Schultisch gelegt hatte, nahm endlich auch ein Ende. Nach der Schule fuhr sie mit dem Fahrrad direkt nach Hause, um sich umzuziehen und dann gleich weiter zum Stall zu fahren.

      Die Familie wohnte in der ersten Etage eines der drei betongrauen vierstöckigen Mietshäuser nahe der beiden Supermärkte und dem Kiosk.

      Malin rannte die wenigen Treppenstufen von der Haustür zur Wohnungstür hinauf, ließ den rosa Rucksack zwischen Stiefeln und Schuhen fallen, die links von den Jacken ordentlich aufgereiht standen. Ihre eigenen Turnschuhe warf sie mitten auf dem Fußboden von sich. „Hallo!“ rief sie. „Ist jemand zu Hause?“

      Keine Antwort.

      Von der Küche aus sah sie, daß die Tür zum Schlafzimmer der Eltern geschlossen war. Sie schlug die Tageszeitung auf und blätterte zerstreut. Mutter hatte also Migräne. Jetzt lag sie da drinnen hinter heruntergezogenem Rollo, ein Kissen auf dem Kopf, in den Ohren vielleicht die gelben Stöpsel aus der Apotheke. Die Familie Bergström-Johansson hatte dann trübe vierundzwanzig Stunden vor sich. Vielleicht zwei Tage lang. Ein Schleichen und Gezischel war das, keine Kassetten oder Radiomusik und die kleinen Geschwister, Emil und Karin, würden nicht drinnen spielen dürfen. Aus alter Gewohnheit blätterte Malin die Zeitungsseiten mit größter Vorsicht um, damit das Geraschel die Mutter nicht störte.

      „Malin!“

      Behutsam tappte Malin zur Schlafzimmertür. „Ja.“

      „Komm ein bißchen herein.“

      Vor dem Fenster hing eine Wolldecke.

      „Hast du Migräne? Möchtest du etwas haben?“ fragte Malin.

      „Nein.“

      „Was wolltest du denn?“

      „Der Direktor hat angerufen. Du hast also wieder mal etwas angestellt!“ Ein grauweißes Gesicht mit zwei blassen Augen, gepeinigt von Kopfschmerzen, wurde am Kopfende des Doppelbettes sichtbar.

      „Aber Mama, ich hab nicht ...“

      „Daß du nie erwachsen wirst! Der Direktor hat gesagt, du bist frech gegen eine Lehrerin gewesen. Du hast sie so beleidigt, daß sie nach Hause gehen mußte. Wie kannst du nur! Als ob man nicht schon genug Kummer hätte. Wenn du wüßtest, wie furchtbar das ist, Migräne zu haben, würdest du dich zusammenreißen.“

      „Ja, aber Mama, ich hab wirklich nichts getan! Die alte Lappenlisa hat behauptet, ich hätte eine leere Bonbontüte auf den Tisch gelegt, so eine, die ordentlich knistert. Aber ich bin das nicht gewesen, Sussi hat sie aus irgendeinem Grund auf meinen Tisch gelegt. Und als ich klarstellte, wie es gewesen ist, drehte die Lappenlisa durch. Die spinnt doch. Ehrlich, ich hab die Wahrheit gesagt. Und was geht es übrigens sie an, ob da eine Tüte auf einem Tisch liegt? Aber die ist so, die kann nichts vertragen. Nie hört sie zu, wenn man was sagt, und sie wird schon verrückt, wenn man nur hustet. Das war so, sie hat gesagt ...“

      „Ja, ja, hör auf mit den Ausreden, das ist jetzt zuviel für mich. Ich weiß ja, wie du bist. Und selbst wenn es diesmal zufällig nicht deine Tüte gewesen ist, hättest du sie ja trotzdem wegnehmen können. Dann wäre uns der Ärger erspart geblieben, und ich müßte nicht hier liegen. Manchmal ist es besser, wenn man den Mund hält, Malin, selbst wenn man im Recht ist. Um Unfrieden und Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Wenigstens das sollte man gelernt haben. Und wie ich dir hier zu Hause dauernd nachräumen muß, da kann ich mir schon vorstellen, daß du die in der Schule zur Weißglut reizt. Da läßt du wahrscheinlich auch alles einfach hinfallen, nehme ich an.“

      „Aber ...“

      „Ja, ja“, sagte Malins Mutter seufzend. „Es ist, wie es ist. Doch jetzt kann ich nicht mehr reden. Sei so nett und mach die Tür vorsichtig zu. Und klappere nicht mit dem Geschirr in der Küche. Meine Kopfschmerzen sind wirklich furchtbar!“

      Malin blieb einige Sekunden stehen, ehe sie sich in die Küche zurückzog. Sie hatte Lust, die Wolldecke vom Fenster zu reißen, es zu öffnen und hinaus auf den Hof zu schreien, daß sie nicht schuld war, daß sie nichts getan hatte und alle Erwachsenen Idioten waren. Aber sie sagte nichts, sondern schlich aus dem Zimmer und machte die Tür vorsichtig hinter sich zu.

      Malin wußte aus bitterer Erfahrung, daß es für sie selbst am schlimmsten wurde, wenn sie ihre Mutter noch weiter reizte. Die ganze Familie würde darunter leiden, wenn sie die Verlängerung der Migräne auslöste. Diese verdammte Schule! Man müßte auf alles pfeifen, einfach abhauen. Sollten die doch aneinander rummeckern, wie sie wollten!

      Aber Amie! Amie konnte sie nicht verlassen.

      Malin ging zu dem Verschlag im Keller, der zur Wohnung gehörte. Dort hatte sie ihre Reitsachen, und dort zog sie sich um. Beide Geschwister, Emil und Karin, acht und sieben Jahre alt, waren allergisch gegen Tierhaare, und deswegen mußte Malin sich im Keller umziehen, wenn sie aus dem Stall nach Hause kam. Und dann mußte sie duschen. Deswegen trug sie ihr Haar immer ganz kurzgeschnitten, damit es schneller trocknete.

      Malins Haar hatte eine goldene Tönung, ihre Augen waren sehr blau. Sie war nicht aschblond, nicht weizenblond oder madonnaweiß. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie der Verlobungsring ihrer Mutter. Malins richtiger Vater war schon verschwunden, als sie gerade geboren war, und als Malin sieben Jahre alt war, war Hans mit Malins Mutter zusammengezogen. Er war der Vater von Emil und Karin.

      Malin wußte, daß ihr Vater in Stockholm wohnte, daß er irgend etwas mit Computern zu tun hatte, und eine neue Familie hatte er auch. Aber das war das einzige, was sie wußte. Wenn ihre Mutter mehr wußte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie sprach nie über Malins Vater.

      Amie wartete. Sie brauchte Malin. Und deswegen fuhr Malin so schnell wie möglich wieder zu Elofssons Stall.

      Das graue Pony stand in seiner Box. Sara und einige andere Pferde waren auf der Weide. Amie stand still und schonte das rechte Bein. Als Malin mit dem Putzzeug zu ihr ging, zuckte die Stute zusammen, als ob sie geschlafen hätte und plötzlich unsanft geweckt worden wäre. Bedrückt stellte Malin fest, daß das graue Pony nicht richtig auftreten konnte, obwohl die Schwellung nach dem Umschlag schon etwas zurückgegangen war.

      Malin bürstete Amie gründlich, mit langen, gleichmäßigen und heute besonders sanften Strichen. Sie waren allein im Stall. Die Sonne durchdrang den Schmutz am Stallfenster, und die Schatten der altmodischen Sprossen, die das Fenster in kleine Vierecke teilte, zeichneten ein quadratisches Muster auf das Fell der Grauschimmelstute.

      Die Ruhe im Stall, Amies Vertrauen zu Malin, ihre Vertrautheit und Freundschaft waren wie ein Pflaster auf Malins verwundeter Seele. Amie war ihre beste Freundin. Leise sprach sie mit der kleinen Stute.

      Plötzlich wurde die Stille von einem Wagen gestört, der auf den Hof gefahren kam. Eine Autotür wurde zugeschlagen, und dann kam noch ein Wagen. Gleich darauf kam Gustav Elofsson herein, diesmal mit erstaunlich freundlicher Miene. Hinter ihm ging ein dunkelhaariger Mann, ein John-Lennon-Typ mit runden Brillengläsern und Drahtgestell und einem graugesprenkelten Vollbart. Er sah sich ein bißchen ratlos um, als er vor Malin stand.

      „Wie schön, daß du da bist und dich um Amie kümmerst“, sagte Elofsson freundlich.

      Überrascht von seinem milden Ton, ließ Malin die Bürste auf Amies Widerrist ruhen. „Ja?“ fragte sie erstaunt.

      „Hier ist sie also“, sagte Elofsson, an den Besucher gewandt, der bei der Boxtür stehengeblieben war.

      „So, das ist also Amie. Gut sieht sie

Скачать книгу