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folgenden Morgen dauerte die Reise. Sonneberg war die letzte Station; hier mußte Elisabeth die Bahn verlassen. Der Korbwagen wurde ausgeladen, der schlafende Kleine liebevoll hineingebettet und nun stand sie da und sah sich um. Sie hatte sicher gehofft, hier abgeholt zu werden und wartete, sich umsehend, eine gute Weile. Es mußte für Herrn Fabrikant Greiner oder seine Gemahlin ein leichtes sein, sie und ihr zukünftiges Pflegekind aufzufinden.

      Ach, sie wartete vergeblich. Greiner und seine Frau saßen an der Arbeit wie immer; keinem wäre auch nur der Gedanke gekommen, einen Arbeitstag zu versäumen, selbst wenn sie genau die Ankunftszeit der Reisenden gewußt hätten. Aber nun sah Fräulein Elisabeth jemand, der ihr als Wegweiser dienen konnte. Am Bahnhof standen wartend zwei Frauen. Die trugen eine große »Schanze«, einen flachen Korb, in dem wohl ein halbes Hundert Puppen dicht aneinandergeschichtet lagen, lauter Puppen, in Hemden und Häubchen, offenbar frisch aus der Fabrik – gewiß aus der Fabrik von Herrn Greiner, dachte das Fräulein. Sie ging auf die beiden Frauen zu und fragte, ob sie aus der Fabrik von Herrn Greiner in Oberhain kämen. Nein, daher kamen sie nicht, wußten auch nichts von dem Namen; aber das Dorf Oberhain war ihnen wohlbekannt und auch, daß heute kein Postwagen mehr dorthin ging. So erkundigte sich das junge Mädchen nach einem Gasthaus und bat dort um einen Wagen, der sie mit dem Kleinen sofort nach Oberhain fahren könnte. Ein solcher fand sich auch, groß genug, daß hintenauf der Korbwagen gepackt werden konnte, und Elisabeth stieg mit Alex ein, froh, endlich so weit zu sein. »Wo soll ich halten in Oberhain?« fragte der Kutscher.

      »Bei Herrn Fabrikbesitzer Elias Greiner,« sagte Elisabeth, »die Wohnung kennen Sie ja wohl?« Nein, er kannte sie nicht, er war schon oft in Oberhain gewesen, hatte aber nie eine Fabrik bemerkt. Er wollte sie aber schon erfragen. Nun ging’s vorwärts, zuerst flott und rasch durchs Städtchen, dann langsamer die aufwärts steigende Straße hinan, rechts Wald, links Wald, ein herrlicher Anblick für die Städterin. Die köstliche Waldluft strömte herein, Elisabeth war in glücklichster Stimmung.

      »Mein kleiner Schatz,« sagte sie zu dem schlummernden Kind, »gelt, ich habe dir eine schöne Heimat ausfindig gemacht, wie wirst du da rote Bäckchen bekommen, mein Liebling – aber Papa und Mama können sich nicht mehr darüber freuen, armer Schneck!«

      Als die ersten Schieferhäuschen von Oberhain auftauchten, fuhr der Kutscher langsamer, wandte sich zurück und rief in den Wagen: »Wie soll die Fabrik heißen?«

      »Elias Greiner.« Ein paar Schulkinder kamen des Wegs. »He,« rief der Kutscher sie an, »wo ist die Fabrik von Elias Greiner?« Die sahen sich an und kicherten und ein Junge sagte: »Bei uns im Dorfe ist keine Fabrik.« Fräulein Elisabeth wurde ängstlich. »Das kann ich nicht begreifen,« sagte sie. »Ich weiß aber gewiß, daß der Name richtig ist, wir haben erst vorige Woche so überschrieben und Antwort erhalten.«

      »Wir wollen’s schon herausbringen,« sagte der Kutscher, »es heißt sich mancher Fabrikant, der keine Fabrik hat.« Er trieb die Pferde an, daß sie rasch durch die Dorfstraße fuhren bis ans Wirtshaus. Bei dem Geräusch des vorfahrenden Wagens trat der Wirt unter die Türe. Die Kutsche hielt, der Kleine wachte auf und fing an zu weinen. Neugierig sammelten sich einige Leute um die Kutsche, während der Kutscher vom Bock aus mit dem Wirt Beratung hielt. Elisabeth verstand nicht genau, was die beiden im Thüringer Dialekt miteinander verhandelten, aber sie hörte, wie der Wirt dem langsam Davonfahrenden nachrief: »Es kann gar kein anderer gemeint sein, als der Drücker Greiner; keiner sonst heißt Elias.«

      Und nun ging’s noch ein Stück langsam weiter, die Dorfstraße wurde enge, ein Häuschen kam zum Vorschein mit einem halb zerfallenen Bretterzaun, über und über mit blassen Puppenköpfen ohne Augen besteckt – vor dem hielt der Kutscher, sprang vom Bock, öffnete den Schlag und sagte: »So, jetzt haben wir die Fabrik!« und sich dem Fenster zuwendend, wo Maries Kopf erschien, rief er: »Wohnt da der Elias Greiner?« Der hatte schon den Wagen halten hören, und nun kamen sie alle heraus: Voran die Frau, dann die Kinder, barfüßig alle, der Johann in bloßem Hemdchen, zuletzt der Mann. Ach, dem Fräulein wurde so weh ums Herz – das sollte die Fabrik sein, der Fabrikant! Ärmlichere Gestalten hatte sie kaum je gesehen! Noch hoffte sie, es möchte ein Irrtum sein, aber nun kam Greiner dicht heran, sah das Kind auf dem Arm des Fräuleins, betrachtete bewegt das liebliche Gesichtchen und sagte: »Das ist also meiner Schwester Kind!« »Ja,« sagte Elisabeth, aber unwillkürlich blieb sie dicht am Wagen stehen – keinen Schritt machte sie auf das Haus zu.

      Frau Greiner fand bestätigt, was sie sich schon gedacht hatte – das junge Mädchen war enttäuscht über das, was sie vor sich sah, bitter enttäuscht. Sprachlos und ratlos stand sie da, das Kind fest an sich drückend. Frau Greiner war nicht gekränkt darüber, das junge Mädchen dauerte sie. »Kommen Sie nur herein, Fräulein,« sagte sie, »das Kind ist ja noch so klein, das merkt den Unterschied noch gar nicht. Gelt du, Kleiner, gelt du bist froh, wenn du nur etwas zu essen bekommst?« Freundlich blickte sie das Kind an und dieses lächelte wieder, und ehe sich’s Elisabeth versah, hatten diese ärmliche Mutter und dieses schön geputzte Kind die Arme nacheinander ausgestreckt und lachend trug Frau Greiner den kleinen Alex ins Häuschen.

      Ihr folgten die Kinder, die bewundernd auf den neuen Ankömmling sahen, während Greiner half, den Koffer abzuladen, und Elisabeth den Kinderwagen richtete. Es war ihr schon ein wenig leichter ums Herz, hatte sie doch ihren kleinen Pflegling in Mutterarme übergeben. Sie folgte ins Zimmer. Da freilich war eine Hitze, ein Dunst und Geruch, daß sie nicht glaubte, bleiben zu können. »Sie haben Feuer an diesem heißen Tag?« fragte sie.

      »Das bringt eben das Geschäft mit sich,« sagte Greiner und deutete auf seine Arbeit.

      Jetzt aber sprach Frau Greiner die Frage aus, die allen längst auf den Lippen lag: »Haben Sie den Soxhlet nicht mitgebracht?«

      »Doch,« sagte Elisabeth, »ich werde ihn gleich hereinholen, er ist draußen im Koffer, ich will nur zuerst dem Kleinen das Reisekleidchen abnehmen.« Greiner und seine Frau warfen sich vielsagende Blicke zu, sie wußten nun, daß Soxhlet kein menschliches Wesen war. Nicht so die Kinder. Für sie war die ganze elegante Erscheinung des Fräuleins mit dem Kind, der schöne Korbwagen, der feine Lederkoffer so wunderbar, daß es ihnen auf ein Wunder mehr auch nicht ankam, und sie glaubten nicht anders, als daß der wilde Soxhlet im Koffer eingesperrt sei. Neugierig schlichen sie miteinander hinaus in den kleinen Vorplatz, wo der Koffer abgestellt worden war. Marie blieb vorsichtig in einiger Entfernung stehen, Philipp aber trat näher.

      »Bleib da!« rief die Schwester ängstlich und leise, daß es der Soxhlet nicht hören sollte. Als sich aber der unheimliche Koffer ganz still verhielt, wurden die Kinder kecker. Sie kamen nahe heran, Philipp wagte sogar mit dem Fuß einen Stoß gegen den Koffer, sprang aber dann doch vorsichtig zurück. »Hast nicht gehört, wie er gebrummt hat?« sagte Marie, »paß auf, daß er nicht herausfährt. Der muß doch arg bös sein, daß er so eingesperrt wird!«

      Jetzt kam Fräulein Elisabeth mit dem Kofferschlüssel heraus, kniete nieder und schloß auf. Die Kinder blieben ängstlich und fluchtbereit in der Ferne stehen, wunderten sich, daß ihre Mutter so ruhig herantrat, und dann waren sie halb beruhigt, und doch halb enttäuscht, als der Deckel aufgehoben wurde und lauter harmlose Dinge, Kleidungsstücke und Wäsche hervorkamen. »Und da ist der Soxhlet,« sagte das Fräulein und vor den erstaunten Augen der Umstehenden zog sie ein Blechgestell mit einer Anzahl leerer Fläschchen heraus, ein Ding, so harmlos und unschuldig wie nur möglich, so daß die Kinder sich verblüfft ansahen. »Das ist der Soxhlet?« sagte Frau Greiner und machte dabei ein nicht eben geistreiches Gesicht.

      »Sie haben sich den Soxhlet vielleicht anders vorgestellt,« sagte das Fräulein. »Ich will Ihnen gleich die Behandlung erklären. In der Berliner Anstalt, wo ich als Kindergärtnerin ausgebildet wurde, hat man uns so gelehrt: ›Um die Milch keimfrei zu machen, wird sie in die Fläschchen gefüllt, die mit durchlochter Gummiplatte bedeckt und in den Blechtopf voll kochenden Wassers gestellt werden, woselbst man sie fünf Minuten kochen läßt. Danach werden die Fläschchen durch Glaspfropfen geschlossen und die Milch noch eine halbe Stunde gekocht.‹« Frau Greiner hatte geduldig und aufmerksam zugehört. Jetzt schloß das Fräulein mit der Bemerkung: »Alex ist doch ein zartes Kind, über die Sommermonate sollten Sie ihn noch weiter so ernähren.«

      »Ja,« sagte Frau Greiner, »ich

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