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Reiten eine der schwersten Künste überhaupt. Hier kommen nämlich zwei Persönlichkeiten zusammen. Trotzdem gibt es unzählig viele vermeintliche Fachleute des Reitens, die sich in allerkürzester Zeit so viel Wissen angeeignet haben wollen, wie ein vollkommener Reiter in seinem ganzen Leben generell erfahren kann. Schnell werden dann auch noch teuerste Pferde gekauft, die den erwarteten Erfolg gewährleisten sollen, ganz gleich, wie sie geritten werden. Würde das tatsächlich so funktionieren, dann könnten sich alle reichen Menschen reiterliche Qualitäten kaufen. Aber sie betrügen sich nur selbst, denn die Reitkunst und der richtige Umgang mit dem Pferd sind alles andere, aber nicht leicht!

      Aktuell richten sich die Blicke auf die Vorhand, insbesondere auf Hals und Kopfposition des Pferdes, den Rest des Tieres übersehen wir sozusagen. Meiner Meinung nach kommt das daher, dass wir uns heutzutage von einer ungefilterten Flut von Bildern und Filmen verleiten lassen und diese als richtig annehmen, ohne mit der nötigen Sorgfalt Abläufe und deren Zusammenhänge genauer zu hinterfragen. Würden wir Bilder sowie Bewegungen mit mehr Wissen und genauer betrachten, dann kämen wir zu einem viel differenzierteren Ergebnis. Der geeignetste Ansatz, Dargebotenes besser bewerten zu können, wäre, das Pferd im Hinblick auf Balance und Harmonie zu beurteilen.

      Bei der Balance geht es physikalisch darum, Fliehkräfte wie die Zentrifugalkraft (von innen nach außen wirkend) und ihre Zentripedalkraft (gegenläufig, also der Zentrifugalkraft entgegengesetzt von außen nach innen wirkend) unter Berücksichtigung der Erdanziehung ins Gleichgewicht zu bekommen. Erst wenn diese gegenläufigen Kräfte sich ausgleichen, sind sie im Gleichgewicht. Ist das der Fall, dann bringt uns die Normalkraft (senkrecht zur Gravitation), die sich auf den Schwerpunkt jedes Körpers bezieht, tief in den Sattel und damit in die Bewegung des Pferdes.

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      Christoph Ackermann auf seinem Erfolgspferd Champus, wunderbar gezeichnet von Renate Blank. Das reiterliche Haupterfordernis: unsere Pferde in allen Gängen und Touren in die richtige Balance zu bringen und darin zu erhalten.

       Was muss ich wissen, um dahin zu gelangen?

      Physikalisch gesehen befindet sich jeder Körper zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmten Lage. Jeder Körper hat somit genau einen Schwerpunkt. Diese Lage kann verändert werden. In welchem Gleichgewicht sich ein Körper befindet, hängt von der Lage des Schwerpunkts ab. Befindet sich ein Körper in Bewegung, so liefert er eine ständige Veränderung (räumlich, zeitlich) seines Schwerpunkts in Reihe ab, sodass wir dann von einer Schwerpunktlinie sprechen müssen. Die passende Gleichgewichtslage beim Pferd ist die Voraussetzung, dass es uns die Energie und den Antrieb liefern kann, die feines Reiten für uns erst ermöglichen. Beim Reiten haben wir es aber gleich mit zwei Körpern zu tun.

      Mit dem Titel dieses Buchs schließe ich mich ganz bewusst der berechtigten Kritik Louis Seegers an, einem der großen und bedeutenden Reitmeister im 19. Jahrhundert. In seiner Schrift Herr Baucher und seine Künste (1852) mit dem Untertitel Ein ernstes Wort an Deutschlands Reiter prangert er Reitweisen an, die nicht pferdekonform sind und dem Ansehen aller ehrlichen Reiterei schweren Schaden zufügen.

      Louis Seeger erklärt in seinen Büchern System der Reitkunst und Herr Baucher und seine Künste, welche große Rolle die Gleichgewichtssituationen im Pferd spielen. Er beschreibt darin die horizontale Balance im Detail und weshalb sie die Schlüsselposition im System der Reitkunst einnimmt. Sein Schüler ist Gustav Steinbrecht, dessen Wissen die Reitvorschriften in Deutschland geprägt hat. So beeinflusste er auch indirekt die heutigen Richtlinien der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (Fédération Équestre Nationale, FN). Der zweite Band dieser Richtlinien benennt Louis Seeger als gottbegnadeten Ausbilder und hebt einen Ausspruch von ihm hervor, der Ewigkeitswert beansprucht: „Vergesst nie, dass die Fortbewegung die Seele der Reitkunst ist und der Impuls dazu von der Hinterhand ausgeht.“ Denn die Hinterhand ist der entscheidende Ausgangspunkt, um die Balance im Pferd zu trainieren.

      Ernst Friedrich Seidler betont 1837 in seinem Buch Leitfaden zur systematischen Bearbeitung des Campagne- und Gebrauchspferdes, mit dem Untertitel: mit besonderer Berücksichtigung junger Pferde, deren Körper noch nicht kräftig ausgebildet ist, die Arbeit an der Balance als erste Pflicht des Reiters. Er warnt vor den bereits damals bestehenden Trends, die uns weismachen wollen, Reiten sei leicht und mühelos zu lernen. Er beginnt seine Ausführungen damit, wie junge Pferde unter Wiedererlangung ihrer natürlichen Balance angeritten werden. Immer wieder wird in seinem Buch das Thema Gleichgewicht als fundamentales Wissen vorausgesetzt und unterstrichen.

      Noch früher, um 1800, hat Ludwig Hünersdorf in seinem Buch Anleitung zu der natürlichsten und leichtesten Art, Pferde abzurichten bereits beschrieben, wie unvernünftig Pferde entkräftet und aus dem Gleichgewicht geworfen wurden. Der daraus entstehende Schaden für das Pferd war groß. Wichtiges Prinzip für ihn war, dass ein gut gerittenes Pferd die Anlehnung sucht und darüber ins Gleichgewicht gebracht wird.

      Für Gustav Steinbrecht gilt am Ende des 19. Jahrhunderts: „Der Bereiter hat seine Aufgabe erfüllt und sein Pferd vollkommen ausgebildet, wenn er die beiden in der Hinterhand ruhenden Kräfte, die Schieb- und Tragkraft, letztere in Verbindung mit der Federkraft, zur höchsten Entfaltung gebracht hat und in ihren Wirkungen wie in ihrem Verhältnis zueinander beliebig und genau abzuwägen vermag.“

      Das gesamte System der Reitkunst basiert demnach auf zwei Grundpfeilern: Gleichgewicht und in der Folge Biegsamkeit, die Voraussetzung für alle Lektionen und Regeln sein sollten. Denn das Aktive, die Beweglichkeit und Leichtigkeit kommen aus der Balance, und aus der geschmeidigen Biegsamkeit lassen sich Geschicklichkeit und Gehorsam entwickeln.

      In den Richtlinien (Band 2 von 1990) bestehen die Autoren darauf, dass folgender klassisch formulierter Satz von François Robichon de La Guérinière bis heute volle Gültigkeit hat: „Der Zweck der Ausbildung eines Pferdes ist, es durch systematische Arbeit ruhig, gewandt und gehorsam zu machen, damit es angenehm in seinen Bewegungen und bequem für den Reiter wird.“

      Ferner wird dort ausgeführt, dass man sich darüber im Klaren sein müsse, dass die Grundlagen der Gebrauchsschule beim Pferd gefestigt und die Forderung an den Reiter, dass nur aus einem korrekten Balancesitz präzise und richtige Hilfen gegeben werden können, absolut erfüllt sein müssen. Darüber hinaus müsse der Reitlehrer die Reitkunst im Rahmen seiner Aufgaben praktisch wie theoretisch beherrschen.

      Wenn die reiterlichen Dachverbände, wie zum Beispiel die Deutsche Reiterliche Vereinigung, immer neue (vermeintlich verbesserte) Richtlinien für Reiten und Fahren herausbringen, um sie in der Praxis umgesetzt zu sehen, machen sie uns glauben, dass dahinter die fachgerechte Ausbildung von Pferd, Reiter und Fahrer im Sinne der klassischen Lehre steht. So war das bestimmt auch einmal gedacht. Im Gegensatz dazu steht meiner Ansicht nach nun leider das, was wir in der heutigen Zeit auf Messen, in Shows und vor allem im Turnierzirkus sehen, den die FN und ihre angeschlossenen Landes- und Regionalverbände nach wie vor verantworten.

      Ich bin der Meinung - und da bin ich nicht allein mit meiner Gesinnung -, dass sich die reiterlichen Dachverbände für einen fairen Umgang mit dem Pferd deutlich verstärkt einsetzen müssen, was aber leider nicht hinreichend geschieht. Gleiches Szenario schlechten Reitens finden wir ebenso in anderen Reitweisen. Es wäre doch eine riesige Chance für die Verbände, insbesondere für die FN, sich an ihre eigenen Ausbildungsregeln zu halten und sich damit positiv abzuheben. Aber Derartiges ist bislang überhaupt nicht erkennbar, und es bleibt mir ein Rätsel, wie man eine solche Gelegenheit vergeben kann. Nur bei großen internationalen Turnieren wie dem CHIO in Aachen finden wir noch genügend Publikum. Auf kleineren Wettbewerben gibt es kaum noch Zuschauer, nur die Helfer und Eltern der Aktiven und diese selbst sind zu sehen. Es ist längst so weit, dass inzwischen schon niemand mehr auf Turnieren in schweren Prüfungen durchgerittene Pferde erwartet, die dem ursprünglichen Begriff, ja dem ehrenvollen Prädikat „Schulpferd“ noch irgendwie nahekommen.

      Die Themen horizontale, vertikale sowie seelische Balance des Pferdes, Takt

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