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Jahrzehnte hinweg. Der Buchtitel, den Christoph hier ausgewählt hat, heißt: „Auf der Suche nach dem Gleichgewicht“. Damit hat er den Kern dessen getroffen, was wir bei Neindorff gelernt haben.

      Ich werde Ihnen eine kleine Anekdote über das Erlernen und Lehren der perfekten Balance erzählen - und darüber, wie viel Freude man aus dieser Arbeit ziehen kann.

      Für einen Artikel der „Norddeutschen Zeitung“ vom September 1953 hat der Wiener Hofbereiter a. D. Ludwig Zeiner aus seinem Leben berichtet:

      Es begann 1898 im Sattel eines Fahrrads. Eines dieser neumodischen „Niederräder“, die, mit Vollgummireifen ausgerüstet, die staksigen Hochräder zügig überholten. Im Wiener Park Schönbrunn klettert der damals 13-jährige Ludwig, Sohn eines Wagenbauers, aufs Rad und steht nach einer Stunde freihändig auf dem Sattel. Dass ihn Oberhofstallmeister Fürst Liechtenstein beobachtet, ist einer der ersten grandiosen Zufälle in Zeiners Leben.

      Der Fürst ist beeindruckt von Ludwigs Balance: Wer seinen Körper so im Griff hat, taugt zum guten Reiter. Bereits zwei Tage später tritt der 13-Jährige in die Spanische Hofreitschule ein, wo Hans Meixner Oberbereiter ist. „Mein Lehrmeister“ schreibt Zeiner mit schwungvoller Schrift und blauem Kopierstift auf die Rückseite eines Fotos.

      Bei Meixner, dessen perfekte Levaden schon Anfang des Jahrhunderts Postkarten zieren, lernt Zeiner in den nächsten Jahren vor allem korrekten Sitz und Handarbeit. Zeiners Spezialitäten: die berühmten Schulen über der Erde. Bei einer Levade bleibt sein Hengst einmal sogar 14 Sekunden mit den Vorderbeinen in der Luft. Dafür applaudiert ihm eines Tages sogar Zar Nikolas II. An der Kavallerieschule der Wehrmacht in Berlin-Krampnitz zeigte Zeiner einen kleinen Lipizzanerhengst namens Pluto, das war während der wöchentlichen Vorführungen unter Felix Bürkner. Zeiner schreibt: „Mein Pluto machte acht wunderschöne Courbetten an der langen Seite an der Hand.“ Sogar einen Trakehnerhengst führte er auf dem offenen Reitplatz der Kavallerieschule in einer meisterhaften Kapriole vor.

      „Wer seinen Körper so im Griff hat, taugt zum guten Reiter.

      „Herr Hofbereiter a. D. Ludwig Zeiner war in der Handarbeit unübertroffener Meistererinnert sich auch Major a. D. Paul Stecken, der 35 Jahre lang die Westfälische Reit- und Fahrschule in Münster leitete.

       Die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts waren für den Eleven Zeiner freilich eher Lehr- als Herrenjahre. Nach einem Jahr Stalldienst, Putzen und Füttern in der Hofreitschule fragte er den berühmten britischen Löwendompteur Tate nach dem Geheimnis seiner Tierdressur. Der erklärte ihm: „Man muss die Regungen der Tiere mitfühlen und sie leiten. Kein Zwang, keine Gewalt!“

      Zeiner wird sich zeitlebens an diesen Rat halten. Aber wie kann man ihn umsetzen? Dieses Geheimnis hat er nicht etwa mit ins Grab genommen, denn er wurde selbst zum Lehrer. Reitern, Richtern und allen, die es gern werden wollten, hat er vor seinem Tod 1960 seine Lebensgeschichte erzählt und sein Wissen weitergegeben. Er schrieb auch Bücher, um überleben zu können. Über die Reitkunst und die Balance hat er allerdings nichts aufgeschrieben. Kein Wort. Aber glücklicherweise gehörte Egon von Neindorff zu den Schülern, die er persönlich in die Geheimnisse der Reitkunst eingewiesen hat. „Von Neindorff war Meister der Handarbeit...“, das kann man mit Fug und Recht ebenfalls behaupten - und diese sehr besonderen Kenntnisse hat Hofbereiter a.D. Ludwig Zeiner ihm übermittelt. Der „Chef“, so nannten wir unseren Lehrer Neindorff, hat wiederum den ernsthaften Versuch gemacht, diese Geheimnisse der Reitkunst, die sehr oft die körperliche und seelische Balance des Pferdes betreffen, auf uns zu übertragen.

      Ich erzähle Ihnen noch eine Geschichte zum Thema Balance: An der Ungarischen Kavallerieschule in Örkénytábor (1922-1945), gelegen ungefähr 60 Kilometer südwestlich von Budapest, wurden die Gesetze der Balance in der klassischen Reitkunst gemessen und getestet. Zwei große Waagen standen sich gegenüber. Sie ergaben eine Fläche so groß wie eine Pferdebox, obendrauf ein Pferd mit Reiter im Sattel. Auf Waage eins die Vorderhand, auf Waage zwei die Hinterhand. Drum herum standen Militär- und Gestütsoffiziere und Stabsveterinäre mit Bleistift und Papier in der Hand. Die Waage zeigte eine Gewichtsverteilung auf den beiden Flächen von 50 zu 50. Es wurde nachdenklich geschrieben und auf dem Papier gekratzt, das Pferd studiert und mit großen Augen auf die Zahlen auf den zwei Waagen geguckt. Der nächste Schritt war das Anpiaffieren des Pferdes: Waage eins (Vorderhand) zeigte 48 Prozent und Waage zwei (Hinterhand) 52 Prozent. Und das, obwohl das Pferd seinen Hals und Kopf selbst tragen muss. So konnte man damals vor 100 Jahren in Ungarn die Richtigkeit der Dogmen der klassischen Reitkunst wissenschaftlich bestätigen.

      Wussten Sie, dass sich das Sinnesorgan für Ihr eigenes Equilibrium in Ihrem Ohr befindet? Jetzt aber Ohren auf! Beim Pferd ist dies genauso! Steht ein Ohr tiefer in der Mutter aller Pferdegymnastik, im Schulterherein, bedeutet das, dass entweder der Reiter oder das Pferd nicht im Gleichgewicht ist. Das Pferd verwirft sich im Genick, es zeigt dem Reitlehrer, Reiter, Richter und Trainer: „Ich versteife mich, ich komme aus der Balance!“, und flugs ist das „klassische Gleichgewichtsreiten“ im Eimer.

      Schade, dass die meisten Reiter und Richter das nicht mehr sehen können. Bräuchten Sie vielleicht eine bessere Brille oder einen anderen Blickwinkel? Augen auf, und lesen und studieren Sie diese ernsten Worte, welche Christoph Ackermann über die „Suche nach dem Gleichgewicht“ schreibt.

      Ich lade Sie herzlich dazu ein und zitiere unseren Lehrmeister Egon von Neindorff: „Reiten tut man mit dem Kopf!“

      Mit reiterlichem Gruß

      Jan S. Maiburg,

       Reitlehrer/Fahrmeister FN

      „Reiten tut man mit dem Kopf!

      Egon vom Neindorff

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Einleitung

       Nehmen wir die Sache der ehrlichen Reiterei ernst!

      Eine gemeinsame, energetische Balancesituation zu erreichen, macht die Reitkunst zu einer sehr schönen, aber auch sehr schweren Aufgabe, die nie ganz vollendet werden kann, sodass ein oder mehrere Menschenleben nicht ausreichen, um sie perfekt zu beherrschen. Künste und Wissenschaften erlernen wir im Übrigen auch nicht während des Schlafens und auch nicht durch Bequemlichkeit. Zwar bringen einige Schüler eine überdurchschnittliche Begabung mit. Das Talent allein reicht aber nicht aus, um gut reiten zu lernen. Manch ein Talentierter wird in der reiterlichen Ausbildung von einem „Normalo“ überholt - und das ist nicht so selten. Erlernen kann man viele besondere Fähigkeiten. Nur der eigene Fleiß der Arbeit und die Mühen der ständigen Übungen und deren Wiederholungen bringen uns zur Harmonie, die zwei gegensätzlichen Nervensysteme so unterschiedlicher Lebewesen wie Pferd und Mensch zu einem erfolgreichen Großen und Ganzen zusammenzuführen.

      Mein Lehrer Egon von Neindorff sah den klassischen Weg, der sich über Jahrhunderte erfolgreich als systematischer und gesund erhaltender Ausbildungsweg für das Pferd erwiesen hat, als den einzig richtigen und bezeichnete ihn als die Sache. Da dies auch für mich zu 100 Prozent Gültigkeit hat, werde ich diesen Begriff der „Sache“ im Text öfter benutzen.

      Bis zu einem gewissen Grad, zum Beispiel bis zum Thema Anlehnung in der Ausbildungsskala, sollte dieses harmonische Große und Ganze jeder erreichen können. Um es zu erlangen, müssen wir eine lange Durststrecke zurücklegen und unser Bestes geben. Ein echter, engagierter Reiter kann das! Doch viele „moderne“ Reiter wollen diesen anstrengenden Weg nicht gehen. Ersatzweise treffen wir dann aber auf geschwätzige Kommentare, gepaart mit modischen Reitaccessoires, die zeigen sollen, wie bedeutsam jene Reiter sind, und den Glanz ihres eitlen, aber reiterlich unbeleckten Auftretens unterstreichen sollen.

      Aber ist es nicht doch in der täglichen Arbeitswelt, der Wirtschaft oder in der Wissenschaft so, dass die dort engagierten Menschen acht bis zehn Jahre, ja ihr Leben lang einem Lernprozess unterzogen sind? Und in den Künsten reicht ebenso eine Lebenszeit nicht aus, um annähernd vollkommen zu werden.

      „Wir

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