Скачать книгу

wie die Nachwirkungen der WM zeigen: Die russische Nationalmannschaft bestreitet ihre Heimspiele nun vermehrt außerhalb der Metropolen Moskau und St. Petersburg. Tickets in Saransk, Rostow am Don oder Nischni Nowgorod waren schnell ausverkauft. Um die Spiele herum werden Angebote etabliert: Freundschaftsturniere, Konzerte, Kinderbetreuung und Verkaufsstände mit regionaler Küche. Beim russischen Verband kümmert sich eine Mitarbeiterin nun ausschließlich um Fans mit Behinderung. „Es kommen mehr Familien in die Stadien“, sagt Elena Erkina. Die Premjer-Liga, die höchste Spielklasse, verzeichnete in der Saison nach der WM einen Zuschaueranstieg von zwanzig Prozent.

       Fans kritisieren überharte Polizei

      Insgesamt sollen für die WM 13 Milliarden Euro aufgebracht worden sein, mehr als die Hälfte für Infrastruktur, Flughäfen, Straßen, Nahverkehr oder Hotels. Die Zahlen sind nicht nachprüfbar. Doch die Regionen werben um Touristen, Investoren und staatliche Unterstützung. In Rostow am Don wurde ein neuer Flughafen gebaut. Rund um das WM-Stadion entsteht ein neuer Komplex für olympische Sportarten. Zuletzt verfolgten durchschnittlich 31.000 Fans die Heimspiele des FK Rostow, dreieinhalb mehr als in der Spielzeit vor der WM. In der umliegenden Region registrierten sich 2018 rund 12.000 Fußballer mehr als im Vorjahr, berichtet Deutschlandfunk-Korrespondent Thielko Grieß, insgesamt sind es nun etwa 130.000. Ob die WM auch anderen Regionen hilft?

      „Durch die großartige Atmosphäre bei der WM haben viele Leute gemerkt, dass es in Stadien nicht gefährlich ist“, sagt Robert Ustian. „Fußball wird als Freizeitvergnügen wichtiger, eine Alternative zu Kinos und Konzerten.“ Ustian ist seit der Kindheit Fan von ZSKA Moskau, er hat noch ganz andere Zeiten erlebt. Bei einem Spiel in der Champions League 2014 in Rom zündeten Fans von ZSKA Böller, zeigten Symbole der Waffen-SS und den Hitlergruß. Danach musste ZSKA mehrere Spiele ohne Zuschauer bestreiten, der Klub erhielt eine Geldstrafe. Robert Ustian war geschockt und fragte sich: „Wie können fünfzig Leute den Ruf einer großen Fanszene beschädigen? Wir sind ihre Geiseln.“

      Robert Ustian wuchs in Abchasien auf, einer Region im Süden des Kaukasus am Schwarzen Meer. Während des Umbruchs Anfang der 1990er Jahre lebte seine Familie in Armut. Der Konflikt mit Georgien wurde zum Krieg. Ustian erzählt, seine Leidenschaft für ZSKA habe seine Ängste gemindert. Er studierte Wirtschaft, bereiste die Welt, erhielt Jobangebote. Er zog nach Moskau wegen des Fußballs.

      Nach dem Tiefpunkt in Rom rief er seine Freunde an. Er schrieb einen Artikel für ein Internetportal, darin ging es um Respekt. Was ihn überraschte, waren die vielen positiven Antworten. Eine achtzig Jahre alte Frau schickte ihnen ein Foto. Darauf hielt sie ein Transparent: „ZSKA-Fans gegen Rassismus“. Sogar CNN und BBC berichteten. „Das war wirklich etwas Neues in Osteuropa.“

      Robert Ustian veröffentlicht Fotos und Interviews für eine vielfältige Fanszene. Der Verein ZSKA öffnet sich und verbreitet die Inhalte. Der Klub dreht nun selbst Videos von Spielern. Gegen Affenlaute im Stadion und Manifeste für „weiße Helden“, gegen Hakenkreuzfahnen und das Verbrennen des Koran. Noch ist Ustians Gruppe eine Minderheit, aber sie wächst. Doch Robert Ustian kann sich keine Jahreskarte kaufen, denn dann wüssten die Neonazis, wo er genau zu finden ist. Hooligans haben ihn bedroht und seine Handynummer im Netz veröffentlicht. „Früher dachten Fans, sie könnten nur als rechtsextrem und gewalttätig in der Kurve mitmachen. Aber wir wollen der jungen Generation eine neue Identifikation bieten. Man kann Fußball lieben, und sich zugleich für Bildung und Sprachen interessieren.“

      Die Atmosphäre bei der WM haben Ustian uns seine Mitstreiter gestärkt. „Es sind viele Freundschaften zwischen Russen und ausländischen Gästen entstanden“, sagt er. „Seit Jahren sendet das russische Staatsfernsehen Hasspropaganda gegen den Westen. Bei der WM haben viele Menschen gemerkt, dass Franzosen, Briten oder Deutsche unser Land nicht zerstören wollen. Man kann miteinander reden – und es kann sogar Spaß machen.“ Nach der WM hat Ustian seine Eindrücke in zahlreichen Foren geschildert, auch bei den Vereinten Nationen in Genf.

      Führt die WM auch langfristig zum Abbau von Vorurteilen? Das Turnier fand in elf Städten statt, zehn auf europäischer Seite, für die große Mehrheit der Bevölkerung war es ein Ereignis aus der Ferne. Das unabhängige Lewada-Zentrum untersuchte im Juli 2018 menschenfeindliche Einstellungen innerhalb der Bevölkerung. Der Parole „Russland den Russen“ stimmten 19 Prozent der Befragten zu, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. 67 Prozent wünschten sich eine Begrenzung der Arbeitsmigration nach Russland, neun Prozent mehr als 2017. Die Abneigung vieler Russen richtet sich vor allem gegen Roma und Menschen aus Zentralasien. Die Umfrage belegt aber auch, dass ihre Skepsis gegenüber „dem Westen“ gesunken ist.

      Robert Ustian glaubt, dass der gesellschaftliche Wandel Zeit braucht, auch bei den Sicherheitsbehörden. Tausende russische Polizisten haben sich in den vergangenen Jahren mit Kollegen aus Westeuropa über Prävention und Deeskalierung ausgetauscht. Dennoch gibt es Vorfälle wie im Juli 2019. Nach dem Spiel in Rostow am Don schlugen Polizisten wahllos auf Anhänger von Spartak Moskau ein. Videos zeigen, dass es zuvor keine Provokationen gegeben hatte. „Die Polizei will Fans kontrollieren: Banner, Gesänge, jede Bewegung“, sagt Ustian. „Aber wir lassen uns nicht alles gefallen. Wenn es zu überharten Einsätzen kommt, gibt es einen Aufschrei. Das war früher anders.“

      Zuschauer hatten für ein WM-Ticket persönliche Daten hinterlegen müssen, zum Beispiel die Handynummer, so waren sie für den Staat leicht lokalisierbar. Der russische Fußballverband wollte diese sogenannte Fan-ID auch auf den Ligabetrieb ausweiten. Doch Fangruppen protestierten. Beim Heimspiel gegen Dynamo Moskau im Mai 2019 brachten Fans von ZSKA den Protest auf eine politische Ebene. Auf ihren Bannern betonten sie, dass die Kosten für den Fan-Ausweis woanders besser angelegt wären: im Rentensystem, in Kliniken, in Bildung. Auf Facebook ergänzten ZSKA-Fans eine Mitteilung: „Es gab keine einzige öffentliche Diskussion über das Gesetz. Und wenn die Stadien halb leer sind, wie in der Türkei und in Italien, wird niemand Verantwortung übernehmen und zurücktreten, weil es im Land keine Institution mit Ansehen gibt. Und da es im Land keinen Sportjournalismus gibt, herrscht völlige Stille.“

       Gegen die Bevormundung aus dem Westen

      Diese Episode zeigt, wie sehr sich die Fankultur seit ihrem Entstehen Mitte der 1970er Jahre gewandelt hat. In der Sowjetunion hatten insbesondere die Gruppen der großen Moskauer Klubs von Anfang an unter Beobachtung gestanden. Ihre Emotionen und undurchsichtigen Hierarchien wurden als „Gefahr für die Ordnung“ gedeutet. Erst recht in angespannten Zeiten: nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979, dem westlichen Olympia-Boykott in Moskau 1980, dem Aufkommen der Solidarność in Polen. Zeitweilig wurden in Stadien Flaggen und Schals verboten. Der Komsomol, die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, wirkte auf kritische Anhänger ein.

      Die Polizei, die Pressezensur und der Geheimdienst KGB verhinderten, dass Schlägereien im Stadionumfeld eine größere Öffentlichkeit erreichten. Sogar die Massenpanik beim UEFA-Pokal-Heimspiel 1982 zwischen Spartak Moskau und dem HFC Haarlem, bei der mindestens 66 Menschen starben, wurde erst sieben Jahre später ausführlich diskutiert. Auch im politischen Vakuum der 1990er Jahre war an eine strategische Fanarbeit nicht zu denken, so vernetzten sich Hooligans und Neonazis, berichtet der freie Journalist und Osteuropa-Experte Thomas Dudek. Einige Hooligans übernahmen Sicherheitsdienste für regionale Mandatsträger, andere schüchterten politische Gegner ein.

      Robert Ustian gehört zu der überschaubaren Gruppe, die sich dagegenstemmt. Als Mitglied des Netzwerks Football Supporters Europe FSE möchte er beim Aufbau einer präventiven Fan-Betreuung helfen, so wie sie in Deutschland durch sozialpädagogische Fanprojekte seit drei Jahrzehnten zum Standard geworden ist. Vor und während der WM war Ustian ein gefragter Interviewpartner für internationale Medien. Auf einer Konferenz diskutierte er mit Vertretern von Borussia Dortmund und dem tschechischen Verein Slovan Liberec: „Diese Leute haben nicht mit dem Finger auf uns gezeigt. Sie sprachen über ihre Probleme mit rechten Fans – und über Lösungen.“

      Robert Ustian wird emotional, wenn es um „arrogante Berichte“ einiger Menschenrechtsorganisationen geht: „Man muss sich auf die Geschichte und die Besonderheiten unseres Landes einlassen, um etwas bewirken zu können. Schon im Zarenreich kamen Reformen stets von der Spitze. Leider haben wir keine Kultur, in der wichtige Veränderungen

Скачать книгу