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im geschlossenen Wagen saß, holte er den Brief seiner Mutter und den Zettel seines Bruders hervor und las beide.

      Ja, es war immer dieselbe Geschichte. Alle, seine Mutter, sein Bruder, alle hielten sie es für nötig, sich in seine Herzensangelegenheiten zu mischen. Diese Einmischung rief in ihm einen ordentlichen Ingrimm hervor, eine Empfindung, die er nur selten hatte. ›Was geht es sie an? Warum hält es jeder für seine Pflicht, sich um mich Sorgen zu machen? Warum drängen sie sich mir auf? Weil sie sehen, daß hier etwas vorgeht, was sie nicht begreifen können. Handelte es sich um eine der gewöhnlichen faden Liebschaften, wie sie in der Gesellschaft gang und gäbe sind, so würden sie mich in Ruhe lassen. Aber sie fühlen, daß dies denn doch von anderer Art ist, daß dies keine Spielerei ist und daß diese Frau mir teuerer ist als mein Leben. Und dergleichen ist ihnen unverständlich, und darum ärgern sie sich. Unser Schicksal, mag es jetzt sein, wie es will, und sich künftig gestalten, wie es will, haben wir uns selbst geschaffen, und wir dürfen uns nicht darüber beklagen‹, sagte er zu sich, wobei er mit dem Worte ›wir‹ sich und Anna zusammenfaßte. ›Aber nein, sie halten für nötig, uns zu belehren, wie wir leben sollen. Sie haben nicht einmal einen Begriff davon, was Glück ist; sie wissen nicht, daß es ohne diese Liebe für uns kein Glück und kein Unglück gibt, sondern geradezu kein Leben‹, dachte er.

      Er ärgerte sich über alle diese Menschen wegen ihrer Einmischung eben deshalb, weil er im Grunde seines Herzens fühlte, daß sie recht hatten. Er fühlte, daß die Liebe, die ihn mit Anna verband, nicht ein augenblicklicher Rausch sei, der vergehen werde, wie gewöhnliche Liebschaften vergehen, ohne in ihrem Leben andere Spuren zurückzulassen als angenehme oder unangenehme Erinnerungen. Er fühlte, wie qualvoll seine und ihre Lage war, welche Schwierigkeit es für sie beide hatte, so den Augen der ganzen Gesellschaft ausgesetzt ihre Liebe zu verbergen, zu lügen und zu betrügen und List anzuwenden und beständig an andere Leute zu denken, während doch die Leidenschaft, die sie verknüpfte, so mächtig war, daß sie beide alles andere außer ihrer Liebe vergaßen.

      Er erinnerte sich, lebhaft aller jener häufig vorgekommenen Fälle, wo sie sich zu Lüge und Täuschung genötigt gesehen hatten, die doch seiner Natur so zuwider waren; er erinnerte sich besonders lebhaft daran, daß er mehrmals an ihr ein Gefühl der Scham über diese Notwendigkeit, zu lügen und zu betrügen, wahrgenommen hatte. Und es überkam ihn ein sonderbares Gefühl, das er schon manchmal seit dem Beginn seiner Beziehungen zu Anna gehabt hatte. Es war dies ein Gefühl des Ekels vor irgend etwas: ob vor Alexei Alexandrowitsch oder vor sich selbst oder vor der ganzen Gesellschaft, das wußte er selbst nicht recht. Aber er hatte dieses sonderbare Gefühl immer möglichst schnell verscheucht. Und auch jetzt schüttelte er sich, um es loszuwerden, und setzte seinen Gedankengang fort.

      ›Ja, sie war früher unglücklich, aber stolz und ruhig; jetzt hingegen kann sie nicht ruhig und selbstbewußt sein, obwohl sie sich nichts merken lassen möchte. Ja, diesem Zustand muß ein Ende gemacht werden‹, sagte er zu sich selbst mit aller Bestimmtheit.

      Und zum ersten Male bildete sich in seinem Kopfe der klare Gedanke, daß dieses Lügen ein Ende nehmen müsse, und zwar je eher, desto besser. ›Wir beide, sie und ich, müssen uns von allem lossagen und uns in irgendeinem Winkel allein mit unserer Liebe verbergen‹, sagte er zu sich.

      22

      Der Regenguß dauerte nicht lange, und als Wronski in vollem Trabe des Deichselpferdes, das die schon ohne Lenkriemen durch den Schmutz dahingaloppierenden Seitenpferde mit sich zog, in Peterhof ankam, schaute die Sonne schon wieder hervor, und die Dächer der Landhäuser und die alten Linden in den Gärten zu beiden Seiten der Hauptstraße blitzten in nassem Glanze, und das Wasser tropfte lustig von den Zweigen und rann von den Dächern herunter. Er dachte nicht mehr daran, wie dieser Platzregen die Rennbahn verderbe, sondern jetzt freute er sich darüber, daß er dank diesem Regen sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause treffen werde, und zwar allein, da er wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, der erst kürzlich vom Auslande aus dem Bade zurückgekehrt war, es vorgezogen hatte, nicht nach Peterhof hinauszuziehen, sondern in Petersburg wohnen zu bleiben.

      In der Hoffnung, sie allein zu finden, fuhr Wronski, wie er das stets zu tun pflegte, um weniger die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht über die kleine Brücke hinüber, sondern stieg vorher aus und ging zu Fuß. Er benutzte nicht die nach der Straße zu gelegene Haustür, sondern ging über den Hof.

      »Ist der Herr gekommen?« fragte er den Gärtner.

      »Nein. Aber die gnädige Frau ist zu Hause. Haben Sie die Güte, nach der Vordertür zu gehen; es sind Leute von der Dienerschaft da, die Ihnen öffnen werden.«

      »Nein, ich möchte durch den Garten gehen.«

      Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie allein sei, wurde in ihm der Wunsch rege, sie vollständig zu überraschen, da er nicht versprochen hatte, heute zu kommen, und sie gewiß nicht dachte, daß er vor dem Rennen noch herüberfahren werde. So ging er denn, den Säbel festhaltend, mit vorsichtigen Schritten auf dem mit Blumen eingefaßten Kieswege nach der Terrasse hin, die nach dem Garten zu lag. Er hatte jetzt alles vergessen, was ihm unterwegs über die Peinlichkeit und Schwierigkeit seiner Lage durch den Sinn gegangen war. Er dachte jetzt nur an eines: daß er sie im nächsten Augenblicke sehen werde, nicht allein in der Einbildung, sondern lebend und ganz, so, wie sie in Wirklichkeit war. Er ging bereits, mit dem ganzen Fuße auftretend, um kein Geräusch zu verursachen, die abgeschrägten Stufen der Terrasse hinan, als ihm plötzlich etwas einfiel, was er immer vergaß und was doch die schmerzlichste Seite in seinen Beziehungen zu ihr bildete: ihr Sohn mit seinem fragenden und, wie es ihm vorkam, feindseligen Blicke.

      Dieser Knabe war ihrem Verkehr häufiger als alle anderen Personen hinderlich. Sobald er zugegen war, erlaubten sich weder Wronski noch Anna, etwas zu sagen, was sie nicht vor aller Ohren hätten wiederholen können, ja, sie erlaubten sich nicht einmal, von den Dingen, die der Knabe doch nicht verstanden hätte, auch nur in Andeutungen zu reden. Sie hatten sich darüber nicht miteinander verabredet, sondern das hatte sich ganz von selbst so gemacht. Sie hätten es ihrer selbst für unwürdig gehalten, dieses Kind zu täuschen. In seiner Gegenwart sprachen sie miteinander, als ob sie nur ein paar Bekannte wären. Aber trotz dieser Vorsicht merkte doch Wronski häufig, daß der Knabe einen aufmerksamen, verwunderten Blick auf ihn richtete und eine eigentümliche Schüchternheit gegen ihn zeigte oder vielmehr sich ganz ungleichmäßig ihm gegenüber benahm, bald freundlich, bald kühl und blöde. Es war, als hätte das Kind eine Empfindung dafür, daß zwischen diesem Manne und seiner Mutter irgendwelche wichtige Beziehung bestehe, deren Bedeutung es nicht verstehen könne.

      Und wirklich fühlte der Knabe, daß er diese Beziehung nicht verstehen könne; er strengte sich an, sich darüber klarzuwerden, welches Gefühl er diesem Manne gegenüber haben müsse, konnte aber nicht damit ins reine kommen. Mit der Feinfühligkeit des Kindes sah er klar, daß sein Vater, seine Gouvernante, seine Wärterin, alle jenen Mann nicht leiden konnten, ja mit Abneigung und Furcht auf ihn blickten, wiewohl sie nichts über ihn sagten, daß aber seine Mutter in ihm ihren besten Freund sah.

      ›Was hat das zu bedeuten? Was für ein Mann ist das? Wie soll ich ihn lieben? Wenn ich das nicht verstehe, so ist das gewiß meine Schuld, und ich bin entweder ein dummer oder ein unartiger Junge‹, dachte das Kind, und daher kam jener forschende, fragende, oft feindselige Ausdruck und die Scheu und die Ungleichmäßigkeit des Benehmens, durch die Wronski sich so peinlich berührt fühlte. Die Gegenwart dieses Kindes rief jedesmal und unvermeidlich bei Wronski jenes sonderbare Gefühl eines Ekels ohne eigentlichen Gegenstand hervor, das er in der letzten Zeit so oft empfunden hatte. Die Gegenwart dieses Kindes weckte bei Wronski und bei Anna ein Gefühl, wie es ein Seefahrer haben mag, wenn er am Kompaß sieht, daß die Richtung, in der sein Schiff schnell dahinfährt, von der ordnungsmäßigen weit abweicht, sich aber sagen muß, daß es nicht in seiner Macht liegt, die Bewegung zu hemmen, daß jede Minute ihn mehr und mehr abtreibt und daß das Einwilligen in die Abweichung von der ordnungsmäßigen Richtung gleichbedeutend ist mit dem Einwilligen in seinen Untergang.

      Dieses Kind mit seinem naiven, ungetrübten Blicke für das Leben war der Kompaß, der ihnen den Grad der Abweichung von dem Wege der Pflicht angab, von dem Wege, den sie zwar kannten,

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