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daß sie mir ihre Teilnahme ausdrückt! Ich mag dieses erheuchelte Mitleid nicht!«

      »Kitty, du bist ungerecht.«

      »Warum quälst du mich?«

      »Aber ich will ja ganz im Gegenteil . . . Ich sehe, du bist erbittert.«

      Aber Kitty hörte in ihrer Aufregung gar nicht auf sie.

      »Ich habe gar keinen Grund, mich zu grämen und mich trösten zu lassen. Ich besitze meinen Stolz, und es wird mir nie in den Sinn kommen, einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt.«

      »Aber das sage ich ja auch gar nicht«, suchte Dolly sie zu beschwichtigen und ergriff ihre Hand. »Nur eines möchte ich dich fragen, aber sage mir die Wahrheit! Sag, hat Ljewin mit dir gesprochen?«

      Diese Erinnerung an Ljewin schien der armen Kitty den Rest von Selbstbeherrschung zu rauben; sie sprang vom Stuhle auf, schleuderte die Schnalle auf den Boden und rief unter wilden Handbewegungen ihrer Schwester zu:

      »Was soll dabei nun noch Ljewin? Ich verstehe nicht, was du davon hast, mich zu quälen! Ich habe dir schon gesagt und sage es noch einmal, daß ich meinen Stolz besitze und niemals, niemals imstande wäre, zu tun, was du tust: zu einem Manne zurückzukehren, der dir untreu geworden ist und sich in eine andere Frau verliebt hat. Dafür habe ich kein Verständnis! Du kannst das, aber ich kann es nicht!«

      Nachdem sie diese Worte hervorgesprudelt hatte, warf sie einen Blick auf ihre Schwester, und als sie sah, daß diese schwieg und traurig den Kopf sinken ließ, da setzte sich Kitty, anstatt, wie sie beabsichtigt hatte, aus dem Zimmer zu gehen, wieder auf den Stuhl an der Tür, verbarg ihr Gesicht im Taschentuche und beugte den Kopf tief hinunter.

      Das Schweigen dauerte mehrere Minuten. Dolly dachte an sich selbst. Ihre Demütigung, die sie stets empfand, war ihr dadurch, daß die Schwester sie daran erinnert hatte, besonders schmerzlich zum Bewußtsein gekommen. Eine solche Grausamkeit hatte sie von der Schwester nicht erwartet, und sie zürnte ihr deswegen. Aber plötzlich hörte sie das Rascheln eines Kleides und zugleich den Ton eines hervorbrechenden und dann verhaltenen Schluchzens; zwei Arme umschlangen von unten her ihren Hals. Kitty lag vor ihr auf den Knien.

      »Liebe Dolly! Ich bin ja so unglücklich, so unglücklich!« flüsterte sie reumütig.

      Und sie verbarg ihr liebes, von Tränen überströmtes Gesichtchen in Dollys Schoße.

      Als ob die Tränen das unentbehrliche Öl wären, ohne das die Maschine des wechselseitigen Verkehrs zwischen den beiden Schwestern nicht ordentlich gehen könnte, setzten sie, nachdem sie sich ausgeweint hatten, ihr Gespräch fort, und obwohl sie nicht von dem sprachen, was ihnen das Wichtigste war, sondern von Nebendingen, so verstanden sie einander doch vollkommen. Kitty fühlte, daß das, was sie im Zorn über die Untreue von Dollys Mann und über deren Erniedrigung gesagt hatte, ihre arme Schwester im tiefsten Herzen verwundet haben mußte, daß aber diese es ihr verziehen habe. Dolly ihrerseits kam über alles ins klare, was sie hatte wissen wollen; sie überzeugte sich nun, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren und daß Kittys Kummer, Kittys unheilbarer Kummer eben darin bestand, daß Ljewin ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgewiesen und Wronski sie getäuscht hatte und sie nun bereit war, Ljewin zu lieben und Wronski zu hassen. Aber Kitty sagte darüber kein Wort; sie sprach nur von ihrem Seelenzustand.

      »Kummer habe ich gar nicht«, sagte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Aber du kannst dir wohl denken, daß mir alles verächtlich, widerwärtig, zum Ekel geworden ist und zuallererst ich mir selbst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für abscheuliche Gedanken ich jetzt über alle Dinge habe.«

      »Was für abscheuliche Gedanken kannst du denn haben?« fragte Dolly lächelnd.

      »Die allerabscheulichsten und garstigsten; ich kann es dir gar nicht sagen. Es ist bei mir nicht Gram oder Verdruß, sondern etwas weit Schlimmeres. Es ist, als ob alles, was in mir Gutes war, sich versteckt hätte und nur das Abscheulichste zurückgeblieben wäre. Ja, wie soll ich dir das nur deutlich machen?« fuhr sie fort, als sie den Ausdruck der Verständnislosigkeit in den Augen der Schwester wahrnahm. »Sobald Papa mit mir zu sprechen anfängt, habe ich sofort die Vorstellung, als dächte er einzig und allein daran, daß ich mich verheiraten müsse. Oder wenn Mama mich auf einen Ball führt, so bilde ich mir ein, daß sie das lediglich tut, um mir möglichst schnell einen Mann zu verschaffen und mich los zu werden. Ich weiß, daß das alles nicht wahr ist; aber ich kann mich von diesen Gedanken nicht frei machen. Die sogenannten Heiratskandidaten mag ich gar nicht ansehen. Ich habe eine Empfindung, als ob sie mir Maß nähmen. Früher war es für mich ein harmloses Vergnügen, im Ballkleid irgendwohin zu fahren; ich freute mich über meine eigene Erscheinung; aber jetzt schäme ich mich und fühle mich verlegen. Nun, und was sagst du dazu: der Arzt . . . Ja, und . . . «

      Kitty stockte; sie hatte noch weiter sagen wollen, daß, seitdem in ihrem Inneren sich diese Veränderung vollzogen habe, auch Stepan Arkadjewitsch ihr in unerträglichem Maße unangenehm geworden sei und daß sein Anblick bei ihr stets die häßlichsten, widerwärtigsten Vorstellungen erwecke.

      »Ja, das ist es«, fuhr sie fort. »Alles erscheint mir im garstigsten, häßlichsten Lichte. Das ist meine Krankheit. Vielleicht geht es vorüber.«

      »Du mußt nicht daran denken.«

      »Das liegt nicht in meiner Macht. Nur wenn ich mit den Kindern zusammen bin, fühle ich mich wohl, nur bei dir.«

      »Schade, daß du nun längere Zeit nicht wirst zu mir kommen dürfen!«

      »Oh, ich komme doch! Scharlach habe ich gehabt; bei Mama werde ich es schon durchsetzen.«

      Kitty bekam ihren Willen und siedelte zu der Schwester über und pflegte die Kinder während der ganzen Dauer des Scharlachfiebers; denn als solches entpuppte sich die Krankheit. Die beiden Schwestern brachten alle sechs Kinder glücklich durch; aber Kittys Gesundheitszustand besserte sich nicht, und zur Zeit der großen Fasten reiste die Familie Schtscherbazki ins Ausland.

      4

      Die höhere Gesellschaft in Petersburg bildete eigentlich nur einen einzigen Kreis, in dem alle sich gegenseitig kennen, ja sogar sich gegenseitig besuchen. Aber in diesem großen Kreise gibt es besondere Abteilungen. Anna Arkadjewna Karenina hatte Freunde und nähere Beziehungen in drei verschiedenen Kreisen. Der eine von ihnen war der dienstliche, offizielle Umgangskreis ihres Mannes und bestand aus dessen Kollegen und Untergebenen, die in gesellschaftlicher Hinsicht auf die mannigfaltigste, bunteste Weise durch allerlei Umstände untereinander verbunden oder voneinander geschieden waren. Anna konnte sich jetzt nur mit Mühe jenes Gefühl einer fast andächtigen Verehrung in die Erinnerung zurückrufen, das sie in der ersten Zeit diesen Leuten gegenüber empfunden hatte. Jetzt kannte sie sie alle so genau, wie man einander in einer Kreisstadt kennt; sie wußte, welche Gewohnheiten und Schwächen ein jeder an sich hatte und wo einen jeden der Schuh drückte; sie kannte ihre Beziehungen untereinander und zu dem Mittelpunkte dieses Kreises; sie wußte, an wem sich der eine oder der andere festhielt und wie und mit welchen Mitteln, und welche miteinander übereinstimmten oder nicht und in welchen Punkten. Aber diesem Kreise, auf den die dienstlichen Interessen ihres Mannes sie hinwiesen, hatte sie trotz allem Zureden der Gräfin Lydia Iwanowna nie Geschmack abgewinnen können, und sie vermied ihn nach Möglichkeit.

      Ein zweiter, ihr näherstehender Kreis war der, durch den Alexei Alexandrowitsch seinen Aufstieg gemacht hatte. Der Mittelpunkt dieses Kreises war die Gräfin Lydia Iwanowna. Die Mitglieder dieses Kreises waren alte, häßliche, tugendhafte, fromme Damen und kluge, gelehrte, ehrgeizige Männer. Einer von den klugen Leuten, die zu diesem Kreise gehörten, hatte ihm die Bezeichnung »das Gewissen der Petersburger Gesellschaft« beigelegt. Alexei Alexandrowitsch schätzte diesen Kreis sehr hoch, und Anna, die es vorzüglich verstand, sich mit allen möglichen Leuten einzuleben, hatte in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Petersburg auch in diesem Kreise Freunde gefunden. Aber jetzt, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, kam ihr dieser Kreis geradezu unausstehlich vor. Es schien ihr, daß sowohl sie selbst wie auch alle anderen sich fortwährend verstellten, und es war ihr in dieser Gesellschaft so öde und unbehaglich, daß sie bei der Gräfin Lydia

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