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blieb sie stehen und überdachte bei sich das Geschehene. Obgleich sie sich weder seiner Worte noch ihrer eigenen erinnerte, so fühlte sie doch, daß dieses kurze Gespräch sie einander in ungeahntem Maße nahegebracht hatte, und sie war darüber erschrocken und glücklich zugleich. Nachdem sie so einige Sekunden gestanden hatte, ging sie in den Wagen und setzte sich auf ihren Platz. Jener Zustand nervöser Anspannung, der ihr vorhin solche Pein verursacht hatte, befiel sie von neuem, ja er war diesmal noch schlimmer und steigerte sich dermaßen, daß sie jeden Augenblick fürchtete, es werde in ihrem Inneren etwas infolge der übermäßigen Spannung reißen. Sie schlief die ganze Nacht nicht. Aber dieser Zustand der Anspannung und diese Träumereien, die ihre Seele erfüllten, hatten nichts Unangenehmes oder Trübes an sich; im Gegenteil lag darin etwas Freudiges, Glühendes, Belebendes. Gegen Morgen schlummerte Anna, auf ihrem Platze sitzend, ein, und als sie erwachte, war es schon heller, lichter Tag, und der Zug war nicht mehr weit von Petersburg entfernt. Sogleich fand sie sich wieder mitten in den Gedanken an ihr Hauswesen, an ihren Mann, an ihren Sohn und in den Sorgen um den bevorstehenden Tag und die folgenden Tage.

      Sobald der Zug in Petersburg hielt und sie ausstieg, war das erste Gesicht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, das ihres Mannes. ›Ach, mein Gott, woher hat er nur solche Ohren bekommen?‹ dachte sie beim Anblick seiner stattlichen, aber frostig wirkenden Gestalt und namentlich der ihr jetzt auf einmal auffallenden Ohrmuscheln, die bis an die Krempe seines runden Hutes hinaufreichten. Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen; um seine Lippen spielte das ihm zur Gewohnheit gewordene spöttische Lächeln, und mit seinen großen, müden Augen schaute er sie unverwandt an. Ein unangenehmes Gefühl preßte ihr das Herz zusammen, als sie seinem starren, müden Blick begegnete, wie wenn sie erwartet hätte, ihn als einen ganz anderen vorzufinden. Besonders auffallend war ihr an ihrer eigenen Person das Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst, das sich ihr jetzt bei der Begegnung mit ihm aufdrängte. Dieses Gefühl war ihr zwar altgewohnt und wohlbekannt und hing eben mit jenem Zustande der Verstellung zusammen, der zwischen ihr und ihrem Gatten herrschte; aber früher hatte sie dieses Gefühl kaum beachtet, jetzt wurde sie sich seiner deutlich und schmerzlich bewußt.

      »Ja, siehst du wohl, dein Mann ist noch genau so zärtlich wie im zweiten Jahr der Ehe und brannte vor Sehnsucht, dich wiederzusehen«, sagte er mit seiner langsamen, hohen Stimme, in dem Tone, dessen er sich fast immer ihr gegenüber bediente; es lag in diesem Tone eine Verspottung der Leute, die im Ernst so sprächen.

      »Ist Sergei gesund?« fragte sie.

      »Und das ist die ganze Belohnung für meine feurige Leidenschaft?« erwiderte er. »Jawohl, er ist gesund, jawohl . . . «

      31

      Wronski hatte in der Nacht gar nicht versucht zu schlafen. Auf seinem Platze sitzend, starrte er bald geradeaus vor sich hin, bald musterte er die Ein- und Aussteigenden, und wenn er schon in früherer Zeit Leute, die ihn nicht kannten, durch den Ausdruck der unerschütterlichen Ruhe in seinem Gesichte überrascht und befremdet hatte, so erregte er jetzt in noch höherem Grade den Anschein des Stolzes und der Selbstzufriedenheit. Er blickte auf die Menschen hin wie auf leblose Gegenstände. Ein nervöser junger Mann, Beamter bei einem Kreisgericht, der ihm gegenübersaß, warf wegen dieser Miene einen ordentlichen Haß auf ihn. Der junge Mann hatte sich von ihm Feuer für seine Zigarette geben lassen, hatte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, hatte sogar eine Gelegenheit benutzt, ihn anzustoßen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er kein lebloser Gegenstand, sondern ein Mensch sei; aber Wronski blickte mit ebenso gleichgültiger Miene nach ihm hin wie nach der Laterne, und der junge Mann schnitt Grimassen, weil er fühlte, daß er gegenüber dieser beharrlichen Weigerung, ihn als Menschen anzuerkennen, nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren.

      Wronski sah nichts und niemanden. Er kam sich wie ein König vor, nicht weil er geglaubt hätte, auf Anna Eindruck gemacht zu haben – das glaubte er noch keineswegs –, sondern weil ihn der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, mit einem Gefühle des Glückes und Stolzes erfüllte.

      Was aus alledem werden sollte, das wußte er nicht, und er dachte auch nicht einmal daran. Er fühlte, daß alle seine bisher planlos zersplitterten Kräfte sich jetzt auf einen Punkt hin drängten und sich mit furchtbarer Gewalt auf ein ersehntes Ziel richteten. Und darüber war er glücklich. Er wußte nur, daß er ihr die Wahrheit gesagt hatte: daß er nicht anders konnte, als dahin zu fahren, wo sie war, daß er sein ganzes Lebensglück, den gesamten Wert und Inhalt seines Lebens jetzt darin fand, sie zu sehen und zu hören. Und als er in Bologoje ausgestiegen war, um ein Glas Selterswasser zu trinken, und Anna erblickt hatte, da hatte er ihr unwillkürlich mit dem ersten Worte seine Empfindung ausgesprochen. Und er war froh darüber, daß er es ihr gesagt hatte und sie es jetzt wußte und daran dachte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Als er in seinen Wagen zurückgekehrt war, rief er sich unablässig alle Stellungen, in denen er sie gesehen hatte, und jedes ihrer Worte ins Gedächtnis zurück, und vor seinem geistigen Auge zogen Bilder einer ihm als möglich erscheinenden Zukunft vorüber, Bilder von einem verlockenden Reiz, der ihm das Herz stocken ließ.

      Als er in Petersburg ausstieg, fühlte er sich nach der schlaflosen Nacht belebt und frisch wie nach einem kalten Bade. Er blieb neben seinem Wagen stehen und wartete, bis Anna ausstiege. ›Ich will sie noch einmal sehen‹, sagte er zu sich mit einem unwillkürlichen Lächeln, ›ich will ihren Gang sehen, ihr Gesicht sehen, will die Bewegung ihres Mundes sehen, wenn sie etwa mit jemand spricht; und vielleicht wendet sie dann den Kopf und sieht mich und lächelt vielleicht.‹ Aber noch ehe er sie selbst sah, erblickte er ihren Mann, den der Bahnhofsvorsteher achtungsvoll durch den Menschenschwarm hindurch begleitete. ›Ach ja, ihr Mann!‹ Jetzt zum ersten Male gewann Wronski ein klares Verständnis dafür, daß dieser Gatte eine mit ihr in enger Beziehung stehende Persönlichkeit sei. Er hatte gewußt, daß sie einen Mann hatte, aber er hatte eigentlich nicht an dessen Dasein geglaubt und gelangte erst jetzt zur vollen Überzeugung, als er ihn sah, mit seinem Kopfe und mit seinen Schultern und seinen in schwarzen Hosen steckenden Beinen, und namentlich, als er sah, wie dieser Mann mit dem Benehmen des berechtigten Eigentümers ihre Hand ergriff.

      Als er diesen Alexei Alexandrowitsch sah, mit seinem petersburgisch frischen Gesichte, in seiner außerordentlich selbstbewußten Haltung, mit dem runden Hute, mit dem ein wenig gewölbten Rücken, da mußte er wohl an sein Dasein glauben und hatte eine unangenehme Empfindung, etwa wie wenn ein Mensch, vom Durste gequält, zu einer Quelle gelangt und an dieser Quelle einen Hund, ein Schaf oder ein Schwein findet, die von dem Wasser getrunken und es aufgerührt haben. Die Art, in der Alexei Alexandrowitsch ging, indem er bei jedem Schritte mit dem Becken und den plumpen Beinen eine drehende Bewegung machte, hatte für Wronski etwas ganz besonders Abstoßendes. Er erkannte nur für sich selbst ein unbestreitbares Recht an, sie zu lieben. Sie aber war unverändert, und ihr Anblick wirkte auf ihn ganz wie sonst: er belebte ihn physisch, regte ihn an und erfüllte seine Seele mit einem Gefühle der Glückseligkeit. Er befahl seinem deutschen Diener, der aus der zweiten Klasse ausgestiegen und zu ihm geeilt war, sich das Gepäck geben zu lassen und damit nach Hause zu fahren; er selbst ging zu Anna hin. Er beobachtete die erste Begegnung von Mann und Frau und bemerkte mit dem Scharfblicke des Liebenden an manchen Anzeichen, daß sie im Gespräch mit ihrem Manne nicht frei von einer leisen Befangenheit war. ›Nein, sie liebt ihn nicht und kann ihn nicht lieben‹, sagte er sich mit großer Bestimmtheit.

      Schon während er von hinten her auf Anna Arkadjewna zuging, bemerkte er mit lebhafter Freude, daß sie seine Annäherung fühlte und schon den Kopf drehte, um sich umzuschauen, dann aber, als sie ihn erkannte, sich wieder ihrem Manne zuwendete.

      »Haben Sie eine gute Nacht gehabt?« fragte er, indem er sich vor ihr und zugleich auch vor ihrem Mann verbeugte und es auf diese Art diesem anheimstellte, die Verbeugung auch auf sich zu beziehen und ihn zu erkennen oder nicht zu erkennen, wie es ihm belieben möchte.

      »Ja, ich danke, ich habe sehr gut geschlafen«, antwortete sie. Ihr Gesicht erschien müde, und von dem Mienenspiel, durch das sich sonst bei ihr die innere Lebhaftigkeit bald in einem Lächeln der Lippen, bald im Glanze der Augen verriet, war jetzt nichts vorhanden; aber für einen einzigen Augenblick blitzte bei einem Anblick in ihren Augen etwas auf, und obwohl dieses Leuchten sofort wieder erlosch, machte ihn doch dieser eine Augenblick glücklich.

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