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einen tiefen Eindruck:

      »Ich ging an diesem Tag sehr früh auf die Bank. Noch bevor sie öffneten. Eine innere Stimme drängte mich, als Allererster anzustehen. In dem Augenblick, als sie aufmachten, lief ich sofort zum nächsten Schalter und schob meine Papiere unter der Schalteröffnung durch. Der Kassierer seufzte, als er meine Papiere in seine linke Hand nahm. Mit der Rechten griff er nach dem Stempel. Als er den Stempel auf dem Farbkissen hin und her bewegte, sagte ein anderer Bankbeamter etwas zu ihm. Automatisch drückte der Kassierer den feuchten Stempel auf meine Papiere und drehte den Kopf zu dem Bankbeamten.

      Kassierer: ›Was hast du gesagt?‹

      Bankbeamter: ›Ich habe gesagt, keine Stempel mehr. Keine Ausreisestempel. Wir machen zu. Befehl von oben.‹

      Schnell zog der Kassierer das Gitter herunter, aber noch schneller hielt ich meine Papiere in der Hand!«

      Jetzt hatte ich verstanden, warum mich das Datum im Brief von Martha so aus der Fassung gebracht hatte. In weniger als einem Jahr sind meine Eltern mit mir nicht nur zweimal geflohen, sondern mein Vater hatte außerdem den allerletzten Vorkriegsausreisestempel erhalten.

      Was empfand man in den Jahren 1938 und 1939, wenn man Jude war? Über diese Tage, Wochen und Monate sprachen meine Eltern nie. Heute glaube ich, dass meine Mutter diese Zeit völlig aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte.

      Ich habe weitere Hinweise dafür gefunden, dass wir tatsächlich monatelang in Prag lebten. Der stärkste Anhaltspunkt war eine Postkarte, die an uns in Prag adressiert war. Der Inhalt bezieht sich darauf, dass wir im September 1938 aus dem Sudetenland geflüchtet sind. Wie der Poststempel zeigt, saßen wir sechs Monate später immer noch in Prag fest und warteten darauf, uns aus der Schlinge befreien zu können.

      Als ich von meiner einsamen Hütte zurückgekehrt war, fragte ich meine Mutter nach Prag. Wieder stritt sie ab, jemals in Prag gewesen zu sein. Ich versuchte, weiter in sie zu dringen, aber sie konnte sich an nichts erinnern. Ihr einziges Zugeständnis war – und das schützte sie vor dem, was sie in diesen Monaten der Ungewissheit erlebt hatte: »Es ist möglich, dass wir in Prag waren, aber nur ein paar Stunden. Nur am Bahnhof, auf dem Weg nach Antwerpen.«

      Wieder überprüfte ich die Daten. Wenn wir erst am 25. März 1939 Prag verließen, dann waren wir noch dort, als Hitler in die Stadt einmarschierte. Welche Erfahrungen bewogen meine Mutter dazu, den Vorhang über diesem Teil ihres Lebens zuzuziehen?

      Ich kann mir ihre furchtbare Angst nicht vorstellen. Saß sie vor Angst zitternd zusammen mit meinem Vater am Radio und hörte Hitlers heiserer Stimme zu? Haben sie über jedes einzelne Wort, das er sagte, nachgedacht oder konnten sie vor Angst nicht mehr denken? Wer war dabei? Waren wir allein, meine Eltern und ich? War es zu gefährlich, sich auf die Straße zu wagen? War selbst die kurze Entfernung zwischen zwei Häusern zu weit? War der Jubel bei Hitlers Ankunft in Prag und die wild gewordene Masse eine Warnung, dass sie zu Hause hinter zugezogener Gardine bleiben sollten?

      Sicherlich fühlte sich jeder Jude in Prag in die Enge getrieben. Die sogenannte Kristallnacht, die Nacht der zerbrochenen Fensterscheiben, hatte bereits als staatlich organisierter Angriff gegen Juden überall in Deutschland, Österreich und im Sudetenland stattgefunden: Am 9. und 10. November 1938 wurden Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte und Häuser geplündert und Juden auf der Straße geschlagen, während die Passanten Hurra riefen und vor ihnen ausspuckten.

      Fehlten meinen Eltern noch die nötigen Papiere? War das der Grund, warum wir immer noch in Prag waren? Ohne Papiere mussten sie um ihr Leben fürchten.

      Ängstliche Gedanken müssen meinen Vater aufgewühlt und ihm die Kraft genommen haben. Meine Mutter hat oft erzählt, dass er auf der Bahnfahrt nach Antwerpen an der Ruhr erkrankt war und oft länger auf der Toilette blieb. Wie viel davon war Krankheit und wie viel war pure Angst?

      »Niemand ist zu dieser Zeit mit der Bahn gefahren«, versicherte mir Mimi, als ich sie zum zehnten Mal anrief. »Die Flugzeuge waren klapperig, aber die Leute sind trotzdem geflogen. Den Zug zu nehmen war zu gefährlich. Da hätte man durch ganz Nazi-Deutschland fahren müssen.«

      Die Briefe bestätigen, was meine Mutter erzählt hat. Wir fuhren tatsächlich mit der Bahn von Prag nach Antwerpen. Der einzige Weg, den es gab, führte quer durch Nazi-Deutschland.

      Ich versuche, mir meine Eltern im Zug vorzustellen: wie sie den Blick senkten, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Irgendwie war es ihnen gelungen, meine kindliche Neugierde zu dämpfen und mich zum Schweigen zu bringen. Obwohl ich keine konkreten Erinnerungen an die Bahnfahrt habe, lebt ein Gefühl der Angst noch heute in mir.

      In dem Hollywood-Film Julia spielt Jane Fonda eine Amerikanerin, die kurz vor Kriegsbeginn mit dem Zug durch Deutschland fährt. Dieses Video habe ich sehr oft ausgeliehen. Immer wieder sehe ich mit Herzklopfen, wie die Nazis in den Zug steigen. Ich warte auf die Szene, in der der Kontrolleur nach ihrem Pass fragt und einen kurzen Moment zögert. Wie hypnotisiert sehe ich meinen Vater in der gleichen Situation vor mir, wie er den Atem anhält, während seine Papiere geprüft werden.

      Zwischen den Briefen in der Schachtel liegt eine ganz schlichte Postkarte, die an uns in Antwerpen adressiert ist. Auf der Karte ist kein Bild. Adresse und Mitteilung sind mit der Schreibmaschine getippt. Das einzig Persönliche ist die Unterschrift: Emil. Bewog schon die Unterschrift seines Schwagers meinen Vater dazu, diese unauffällige Karte aufzubewahren und mit nach Kanada zu nehmen?

      Die Adresse sieht ganz nach vorübergehender Zufluchtsstätte aus. Das Wort Monsieur ist falsch abgekürzt als Mons. Dann folgt der eindeutig deutsche Name meines Vaters: Edmund Waldstein. Die Adresse: Hotel Maison Max und die Straße Rue de la Station 40-42-44 weisen darauf hin, dass meine Eltern ein Hotel gewählt hatten, in dessen Nähe eine Bahntrasse verlief – die Lebensader aller Menschen auf der Flucht. Und dann fällt die französische Fassade ganz ab und die Angabe von Stadt und Land ist in deutscher Sprache: Antwerpen, Belgien.

      Emil bestätigt auf der Postkarte den Empfang eines Telegramms und dreier Briefe, was darauf hinweist, dass wir längere Zeit in Antwerpen geblieben sind. Was hat meine Eltern davon abgehalten, das nächste Schiff nach Kanada zu nehmen?

      Genauestens prüfe ich jedes Wort von Emil:

      Ich war heute bei der Canadian Pacific Gesellschaft und Steiner sagte mir, dass man keinen Vorzeigebetrag brauche, aber die Schiffskarte von drüben und ich soll in einigen Tagen nachfragen kommen, was für Bestimmungen herauskommen. Heute sagte Steiner nichts von einem Permit und ich muss Euch alles selbst überlassen, sich in Canada sofort zu erkundigen, ob ich auf Grund der früheren Anforderung ohne Kapital einreisen kann oder Permit und Schiffskarte von drüben brauche.

      Das muss wohl der Grund gewesen sein, warum wir so lange in Antwerpen geblieben sind. Wir warteten darauf, dass Anny und Ludwig uns nicht nur die Einreisebewilligung für Kanada, sondern auch die Schiffskarten schickten. Außerdem verlangte die kanadische Regierung, dass für jeden Immigranten 1000 kanadische Dollar als Sicherheit hinterlegt wurden. Mimi erzählte mir, dass man aus Europa kein Geld ausführen durfte, und dass wir in Kanada mit dem Gegenwert von einem Dollar in der Tasche ankamen.

      3. Kapitel

      Briefe nach Antwerpen

      Der Anfang ist wohl bitter. Manches wird Euch schwer fallen und schmerzlich berühren, aber der gute Wille und das harte Muss wird alle Schwierigkeiten überbrücken.

      Diese Worte von Arnold, dem älteren Bruder meines Vaters, blieben mir im Gedächtnis. Ihre Symbolik erstaunt mich – wie so vieles im ersten Brief vom 2. April 1939. Mein Vater hatte dafür einen Ausdruck: vernünftig.

      Diese Wortwahl passte gut zu meiner Vorstellung von einem großen Bruder, wie ich ihn mir wünschte, einem Bruder, der mir den Weg ebnen würde, und ebenso passte sie zu meinem Bild von Menschen, die sich zum Ingenieurberuf hingezogen fühlen. Jetzt entdecke ich diesen Arnold, dessen unerschütterlicher Optimismus das Ergebnis einer tiefen Familienbindung ist, und nehme ihn aus der Nähe wahr.

      Heute sind es 8 Tage seit wir uns von einander verabschiedeten und noch immer habe ich dieses schreckliche traurige Gefühl in mir,

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