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um sich vor dem Terror der Geheimpolizei in Sicherheit zu bringen. Ein paar Anrufe genügen und wir haben ihn gefunden: Er arbeitet heute als Redakteur der Provinzzeitung El Mañana in Reynosa, einer Grenzstadt zu Texas. Am Telefon wird er recht wortkarg, als ich den Grund meines Besuches erwähne. »Warum kommen Sie jetzt, so viele Jahre danach? Ich will keine Probleme.« Aber nun gut, wo ich schon einmal so weit gereist sei. Dann erzählt er mir, dass er 1978 von der Polizei informiert wurde, der US-Untersuchungsausschuss sei im Anmarsch und wolle ihn vernehmen. Die Herrschaften seien dann aber doch nicht aufgetaucht. Offenbar hat irgendjemand erfolgreich versucht, die Zeugenaussage von Oscar Contreras zu hintertreiben. Das macht uns nur noch neugieriger auf das Treffen mit ihm.

      Wir fliegen nach Monterrey, einer aufblühenden Industriemetropole im Norden Mexikos. Von hier aus sind es noch drei Stunden Autofahrt durch die versteppte Pampa: Flaches Buschland, ausgedehnte Ranchos, am Straßenrand bis an die Zähne bewaffnete Militärposten auf der Suche nach Drogentransporten. Dann tauchen die ersten Ölraffinerien auf: Reynosa, von der viele Mexikaner sagen, sie sei die hässlichste Stadt des Landes.

      Nach Feierabend sind die Straßen leer und abgedunkelt. Die Menschen hier haben Angst vor den maras, bewaffneten Drogenbanden, die einander und den Staat bekämpfen – im Streit um die besten Drogenrouten in den Norden. In schwarzen Limousinen patrouillieren sie durch die Städte und beherrschen ganze Landstriche. Die Mitglieder der gefährlichsten Bande sind an ihrer Tränen-Tätowierung erkennbar. Jede auf dem Arm oder im Gesicht eintätowierte Träne bedeutet einen absolvierten Mord.

      »Verhältnisse wie in Kolumbien« – das ist die erste Bemerkung des Zeitungsjournalisten Oscar Contreras, als er zum verabredeten Treffpunkt im Zentralpark mit seinem Leibwächter Andrés auftaucht. Es sei für ihn zu gefährlich, allein in der Stadt unterwegs zu sein. Erst vor einer Woche ist eine Kollegin, die Rundfunkreporterin Dolores Guadalupe Escamilla, von der Drogenmafia auf offener Straße erschossen worden. Die Regierung hat vor wenigen Wochen eine Sondereinheit der Armee mit 540 Mann in die Stadt verlegt, um die Autorität des Staates wiederherzustellen, bislang vergebens.

      Während des Gesprächs wandert Oscar Contreras Blick ständig umher, von der Tür zum Fenster und zurück. Er wirkt wie ein gehetztes Tier, in ständiger Angst vor dem Schuss aus dem Dunkeln. Überall, sagte er, hätten die Drogengangster Verbündete und Spitzel, in den Behörden, bei der Polizei und auch in den Redaktionen der Zeitungen. Sie haben die Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür durchsetzt. Wer sich als Journalist nicht kaufen lässt, hat kaum eine Chance. Was treibt ihn an, mit seiner journalistischen Arbeit weiterzumachen? »Man muss sein Scherflein beitragen und darf nicht weglaufen«, sagt er leise und hebt resigniert die Achseln.

      Nach meinem Anruf, so Oscar Contreras, habe er drei andere ehemalige Genossen seiner Gruppe informiert. Sie waren damals bei dem Treffen mit Oswald dabei. Aber keiner der drei will darüber sprechen: »Sie haben Angst. Oswald ist ein Tabu, ein unerwünschter Toter.«

      An einem Tag Ende September 1963 verteilten die vier Aktivisten des Bloque Revolucionario Flugblätter in der Cafeteria der Philosophischen Fakultät, als vor ihnen unvermittelt ein unscheinbarer Gringo mit einer Reisetasche auftauchte. Oscar Contreras erinnert sich an die ersten Worte des Nordamerikaners:

      »Er stellte sich als Lee Harvey Oswald vor. Er sei ein amerikanischer Revolutionär und Vorsitzender einer Kuba-Solidaritätsgruppe in New Orleans. Man habe ihm empfohlen, mich anzusprechen, da ich ihm vielleicht helfen könnte, nach Kuba weiterzureisen. Dorthin wollte er unbedingt, um die Revolution zu unterstützen. Aber in der kubanischen Botschaft hätte er kein Visum bekommen, jedenfalls nicht sofort, worüber er sehr enttäuscht war. Oswald verstand die Gründe nicht, denn schließlich habe er viel für Kuba geleistet.

      Er war uns zuerst sympathisch, weil er dieselben politischen Ideen hatte wie wir. Er sprach ein gebrochenes Spanisch, war höflich und ruhig.«

      »Wie lange waren Sie mit ihm zusammen?«, frage ich ihn.

      »Den ganzen Nachmittag und dann am nächsten Vormittag.«

      »Und wo blieb er in der Nacht?«, will ich wissen.

      Oscar Contreras zögert mit der Antwort, bevor er sich entschließt, ein kleines Geheimnis preiszugeben. Eigentlich dürfe er das nicht erzählen, das habe man damals unter den Genossen ausgemacht. Doch dann rückt er doch damit heraus: Oswald verbrachte auch die ganze Nacht mit ihm und den anderen in der konspirativen Wohnung der Gruppe im Zentrum von Mexico City: »Wir nahmen ihn mit, holten etwas zu essen und schliefen dann. Er schlief wie alle auf einer Matraze. Wir hatten viel zu tun und kümmerten uns nicht weiter um ihn. Alles was er zu sagen hatte, hatte er gesagt: Kuba, Fidel, Che, Revolution. Mehr nicht. Er wollte auf Teufel komm raus nach Kuba und für die Revolution kämpfen. Seine politischen Ansichten waren sehr radikal.

      Wir haben am nächsten Morgen das älteste Mitglied unserer Gruppe, einen peruanischen Anarchosyndikalisten, zur kubanischen Botschaft geschickt. Er kannte den Botschafter persönlich und sollte herausbekommen, was los war. Er kam zurück und sagte, Oswald sei möglicherweise ein CIA-Agent und ein sehr gefährlicher Mann. Die kubanische Botschaft wusste offenbar alles über ihn und befahl uns, den Kontakt abzubrechen. Die G-2, der kubanische Geheimdienst, hatte ihn im Auge. Ich sagte zu Oswald: Tut uns leid, wir können dir nicht weiterhelfen.< Er blieb ganz ruhig und ging. Das ist alles.«

      In den folgenden Tagen habe er Oswald noch ein paar Mal an der Universität, zusammen mit anderen revolutionären Gruppen, und einmal auf einer Party gesehen: »Oswald hatte viele Kontakte mit Revolutionären und mit revolutionären Snobs.«

      War auch Silvia Durán, die an der kubanischen Botschaft arbeitete, auf der Party? Oscar Contreras legt die Stirn in sorgenvolle Falten, so als wolle er damit ausdrücken: Habe ich nicht schon genug erzählt? »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie war meistens bei solchen Partys dabei.«

      »Hatte sie ein Verhältnis mit Oswald?«

      »Dazu sage ich nichts. Das sind menschliche Schwächen, die mit Politik nichts zu tun haben.«

      Dann fällt ihm doch ein Name ein, bei dem er sich ganz sicher ist: »Elena Garro war dabei. Sie war damals auf allen Partys der Mittelpunkt.«

      Die Reise nach Reynosa hat sich gelohnt. Wir haben den ersten Zeugen gefunden, der mit Lee Harvey Oswald intensiven Kontakt hatte. Oswald ist aus der Anonymität der Millionenstadt hervorgetreten, bekommt Konturen und ein menschliches Gesicht. Und es gibt eine neue Spur: Die Party mit Elena Garro. In den sechziger Jahren beschäftigten ihre Skandale die Feuilletons der Hauptstadtpresse. Sie war eine leidenschaftliche Kämpferin für die Rechte der Landarbeiter, erfolgreiche Schriftstellerin, Sozialrevolutionärin und Monarchistin zugleich. Von ihrem Mann, dem Literaturnobelpreisträger Octavio Paz, lebte sie getrennt. Heute sind beide tot – aber was ist mit der gemeinsamen Tochter Helena?

      Kein Tanz mit Helena Paz Garro

      Wir machen Helena Paz Garro in der Stadt Cuernavaca ausfindig. In ihrem Bungalow lebt sie gemeinsam mit einem Hund und 35 Katzen. Krankheit und Kummer haben tiefe Furchen in ein schönes Gesicht gegraben. Für das Interview hat sie eine dicke Schicht Lippenstift aufgetragen, der die weißen Filter der Benson&Hedges, die sie pausenlos anzündet, karmesinrot färbt. Die Tochter des großen Octavio Paz – verarmt und vergessen. Dass ihr Vater sie fallen ließ, schmerzt sie bis heute. Ihr kurzes und scharfes Urteil: »Er war ein Reaktionär, Fidel Castros Feind Nummer eins, von der Bourgeoisie gekauft.«

      Helena wuchs mit ihrer exzentrischen Mutter auf und lernte auf Reisen nach Wien, Paris, New York, Havanna und Madrid die Großen der Literatur kennen: Nicolas Guillén, Alejo Carpentier, Ernst Jünger. Letzteren liebte sie besonders: »Er war ein Rebell und gleichzeitig konservativ« – ähnlich wie ihre geliebte und tyrannische Mutter. 1956 war auch Che Guevara Gast im Haus ihrer Mutter, als er mit Fidel Castro zusammen im mexikanischen Exil lebte. Ideologisch gesehen war Elena Garro zu der Zeit eine Kommunistenfresserin, was sie jedoch nicht daran hinderte, mit dem linken Jetset Mexikos ausufernde Partys zu feiern.

      Nach diesem Ausflug in die gute alte Zeit der kulturpolitischen Kämpfe des Kalten Krieges komme ich zum eigentlichen Anlass meines Besuches:

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