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auf. Viel Ruß legte sie unter den Augen auf. Sie krallte ihre Fingernägel in die feuchte Erde eines Blumentopfes und pustete auf die Fingerspitzen. Über die schönen Zähne wischte Rose etwas Heidelbeermarmelade.

      Sie trat vor den Spiegel, kontrollierte gründlich ihre Arbeit und schickte zufrieden dem Spiegelbild einen Kuss. Dann übte sie noch einige passende Körperhaltungen, machte einen schiefen Hals und ließ die Schultern hängen. So zog die verwandelte Frau mit einem schäbigen Rollkoffer, dem ein Rad fehlte, los in die Stadt, um einen Bären in die Falle zu locken.

      „Ich bin auch ein Honigtöpfchen“, maulte das runde Glühwürmchen. „Warum darf ich nicht losziehen und einen großen Rüpel anlocken?“

      „Ach, mein liebes Glüh“, sagte Tok-Tok und streichelte die sehr große und sehr kindliche Hand der jungen Frau, „du bist kein Honigtöpfchen, du bist ein Tanklaster voll Honig. Du verschreckst die Männer. Die rennen um ihr Leben und verkriechen sich, wenn du sie frontal ansteuerst.“

      „Aber ich könnte doch so einen Unhold unter den Tisch trinken, und dann, zack, über die Schulter werfen wie einen Kartoffelsack und hierher schleppen. Nie darf ich Spaß haben. Ich bin so unglü…, ich bin so unglü…, ich bin so unglücklich.“

      Es klapperten die Bestecke, es klirrten die Gläser auf den Tischen vor dem „Gasthaus zur Endstelle“, es brummte das Geschäft. Der Wirt strahlte mit der milden Frühlingssonne um die Wette. Die Ankunft der Straßenbahn in der Wendeschleife war zu hören, ihr Halten und das Öffnen der Türen. Kurz darauf näherte sich aus der entgegengesetzten Richtung ein unangenehmer Kratz- und Schleifton. Der Wirt hob besorgt die Augenbrauen. Rosalinde schlurfte mit ihrem Rollkoffer an den Tischen vorbei zur wartenden Bahn. Bestecke, Gläser und Gespräche verstummten. Als die verstörende Erscheinung in der Bahn verschwunden war, belebte sich der Freisitz wieder.

      „Was war denn das?“, murmelte ein Gast.

      „Nur eine arme Irre“, beruhigte der Wirt die Gäste. „Rose-Rad-ab heißt sie und ist ganz harmlos. Sie wohnt seit ein paar Wochen im Eulengrund. Die Hochherzigen Brüder e.V. stecken dahinter, die haben das Dach von einem halb verfallenen Klinkerbau repariert. Sie nennen diese Bruchbude nun Sozialstation für unbetreutes Wohnen. Unbetreut? Dass ich nicht lache. Pflegekräfte und Wachpersonal wollen die Geizhälse sparen. Bis jetzt hausen nur drei Frauen dort.“

      „Keine schlechte Sache“, mischte sich ein Gast vom Nachbartisch ein. „Ein Sozialmensch kam in die Siedlung, ging von Haus zu Haus und hat alles erklärt. Der Verein, also diese Hochherzigen Brüder oder so ähnlich, haben auf dem Gelände ein Obdach für Menschen in Not eingerichtet. Die sollen dort leben dürfen wie sie wollen und sollen dort Gartenwirtschaft treiben und Tiere halten. Und wir, die Nachbarn, sollen sie in Ruhe lassen. Das sind ganz normale obdachlose Frauen.“

      Der Wirt grinste breit.

      „Ja, das sind ganz normale Schnapsdrosseln, wenn ihr mich fragt. Massenhaft liegen dort Flaschen im Gras und Schlimmeres. Ich sehe nicht hin, geht mich nichts an. Aber hier oben sehe ich hin, hier gibt’s keine Bettelei, kein Vollquatschen der Gäste, kein Wühlen in den Papierkörben. Bei allem Verständnis, mein Geschäft soll nicht leiden unter dieser Nachbarschaft.“

      Er schlenderte zwischen den Tischen ins Innere der Wirtschaft. „He, Kupferspecht, ich lade dich ein.“

      Der Kupferspecht, durch und durch ein Gauner, stand an der Theke. Er nannte sich Buntmetallhändler, schlich nachts herum und klaute Blei- und Kupferrohre, zerschnitt sogar lebendige Kabel. Der Kupferspecht kannte den Eulengrund wie seine Westentasche. Wie ein Schatzgräber durchwühlte er täglich und nächtlich das Gelände der alten Eisenwerke.

      „Die drei Frauen leben vorn im alten Betriebsbahnhof“, flüsterte er dem Wirt zu, der zwei Gläser füllte. „Sie kochen und schlafen dort. Dahinter steht auf vier Säulen das Schaltwerk, ein hoher Kasten mit vielen Fenstern. Eine schmale Eisentreppe zwischen den Säulen führt nach oben. Das scheint ihr Wohnzimmer zu sein. Dort verbringen sie die halbe Nacht. Die Fenster sind dicht mit Lappen verhängt. Dort werden sie wohl saufen, naschen und fernsehen. An den Lappen flackert immer Fernsehlicht.“

      „Hast du dich mal innen umgesehen?“

      „Nein. Man kommt nicht nah heran.“

      „Hält das dicke Nilpferd mit ihrem Besen Wache?“

      „Nein, Cora X-Bein hält Wache.“

      „Cora X-Bein? Ist das die Alte, die mit dem Zauberstock?“

      „Nein, die Alte mit dem Knüppel heißt Tok-Tok, sicher weil sie so Tok! Tok! auf die Erde klopft. Nein, nein, Cora X-Bein ist ein Untier, sie ist Das wirklich Böse unter der Sonne. Das ist eine Kampfziege, wachsam und gefährlich wie ein Hofhund. Dieses Ziegenvieh ist schlau, versteckt sich oder stellt sich tot und greift dann tückisch von hinten an. Das X-Bein wohnt in den Mauerresten der zerfallenen Werkskantine und schläft dort im alten Backofen. Da kommt man nicht unbemerkt vorbei. Ja, und diese gehörnte Hexe hätte mich gestern Nacht fast erwischt.“

      „Eine Ziege, die in einem Backofen wohnt“, sagte der Gastwirt lachend, „das hat was.“

      „Ja, das hat was Teuflisches“, sagte der Kupferspecht.

      Dann wurde der Wirt ernst und sagte leise: „Das Lumpengesindel muss verschwinden.“ Er schenkte dem Kupferspecht ein. „Dabei bin ich nicht knausrig.“

      2.Kapitel

       Ein Bär tappt in die Falle

      Man darf zwischen fremden Leuten nicht einfach umfallen, sich auf die Straße legen und heulen. Das macht man nicht. Man macht es schon gar nicht, wenn Kinder dabei sind. Sind Kinder dabei, muss man mit einigem Anstand verzweifeln. Ich hielt mich also aufrecht, als mich der Schlag traf, den man Schicksalsschlag nennt. Ich fiel nicht um und heulte auch nicht. Ich taumelte über die Straße. Ich lehnte mich mit der einen Hand an die Haustür und suchte mit der anderen nach dem Schlüssel. Ich hätte wohl lange so gestanden, wenn nicht ein Nachbar die Tür geöffnet hätte. Ich schleppte mich die Treppen hinauf. In meiner Wohnung warf ich mich auf das Bett und träumte mich zehn Jahre zurück.

      Ich träumte von einer Mädchenhorde, und mittendrin in diesem quietschenden und lachenden Knäuel war sie, Rosalinde, Rose genannt, das schönste und klügste Mädchen der Universität. Wenn sie da war, war es etwas heller im Hörsaal. Es leuchteten die Augen der Studenten und Lehrer, vom schüchternen Erstsemester bis hin zum alten Professor. In Rosalindes Nähe reckten sich alle ein wenig in die Höhe und waren stolz, weil sie ja irgendwie zu der gleichen Art Lebewesen gehörten wie diese wunderbare junge Frau.

      Eines Tages verschwand Rosalinde aus der Universität, aus der Stadt und, wie es schien, aus der Welt. Studenten und Professoren schrumpften um einige Zentimeter.

      „Verlassen, wie der Saufnapf eines gestorbenen Wellensittichs“, murmelte ein Lichtenberg-Kenner. Doch nach und nach trösteten wir uns. Wir waren sicher, dass Rosalinde wieder auftauchen würde, ganz oben, in der höchsten Liga. Sie würde als Sonderbotschafterin der UNO Kriege verhindern, sie würde als Ärztin Seuchen besiegen oder sie würde auf der Liste der Nobelpreisträger erscheinen. Nein, so ein Glücksfall Mensch kann nicht einfach verschwinden. Und nun, etwa zehn Jahre später, traf ich Rosalinde, den Glücksfall Mensch, meine unerreichbare Studentenliebe. Ich traf sie an der Haltestelle vor meiner Wohnung. Sie bemerkte mich nicht, sie war beschäftigt. Sie wühlte in einem Papierkorb.

      Sie holte angebissene Brötchen heraus. Sie roch daran und pustete Schmutz und Zigarettenstummel von den Brotresten herunter. Sie stopfte ihre Beute in einen speckigen Rollkoffer, den sie hinter sich her zerrte. Dem Rollkoffer fehlte ein Rad und die Achse kreischte über das Pflaster. Dieses Kreischen schrillte in meinen Ohren, als ich auf dem Bett lag.

      „Ich muss sie retten“, murmelte ich endlich nach ein paar Stunden und rappelte mich auf. „Ich muss sie zu mir nehmen, ins Bad führen, die Haare waschen, neu einkleiden, zum Doktor bringen … Vielleicht ist ihr ein Unglück zugestoßen oder eine Suchterkrankung oder eine Liebeskatastrophe.

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