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kann lesen.« Clara war durchaus ein wenig besorgt. »Aber«, sagte sie nach Rücksprache mit ihrem Mann, »da es nun so ist, soll sie lesen. Doch wir müssen auch an andere Fächer denken. Papa wird ihr Rechenstunden geben und ich sie schreiben lehren.« Ach, das Schreiben machte Agatha überhaupt keinen Spaß. Auf die Rechenstunden aber freute sie sich. Der Papa war überrascht. »Ihr Gehirn funktioniert mathematisch«, sagte er. Agatha war ziemlich stolz darauf, nun eine Schülerin zu sein. Zwar waren Madge und Monty als Internatszöglinge ihr weit voraus, aber auch sie ging jetzt die ersten Schritte in Richtung auf Erkenntnis und Wissen. Allerdings fürchtete sie sich stets vor den Rechtschreibstunden. Ihr Leben lang blieb Orthografie ihre schwache Seite. Sie hatte die Wörter durch Nursies Erklärungen nach der Ganzheitsmethode erlernt und schrieb nach Klang. O ja, sie war sehr musikalisch. Als ihre Hände ein bisschen größer geworden waren, kam eine Klavierlehrerin ins Haus, und die war bald richtig beeindruckt von Agathas flüssigem und ausdrucksstarkem Spiel.

      Schon als Kind erlebte Agatha eine erste schmerzhafte Trennung vom Ashfieldschen Kosmos mit seinen Menschen, Tieren, Bäumen und Büchern. Ihr Vater schrieb, wenn er beim Ausfüllen eines Formulars oder beim Einzug in ein Hotel seinen Beruf angeben sollte, stets schlicht »Gentleman« hinein. Er arbeitete nicht, sondern lebte das angenehme und abwechslungsreiche Leben eines vermögenden Herrn zwischen Club, Cricketground, Kunst-Auktionen, Wochenend-Einladungen, Theatervorstellungen, Gardenpartys, Reisen und Ashfield. Er sammelte Antiquitäten, las interessante Autoren, kaufte antike Möbel, verwöhnte seine Frau und unterrichtete seine Kinder. Frederick Miller war ein äußerst beliebter Zeitgenosse, hatte viele enge Freunde und angeheiratete Verwandte. Finanzieren konnte er sein müßiges Leben durch den Besitz ausgedehnter Liegenschaften in den Vereinigten Staaten; seine Häuser in New York warfen seit vielen Jahren eine bedeutende Summe ab. Leider aber stellte sich eines Tages heraus, dass seine Verwalter drüben doch nicht die tüchtigsten und auch nicht die vertrauenswürdigsten waren. Sein Vermögen war zusammengeschmolzen, die finanzielle Lage angespannt, die Aussicht düster. Eine Weile besprach sich Frederick mit seinen Anwälten, Kabel und Briefe mit unerquicklichen Abrechnungen gingen hin und her – und am Ende stellte sich heraus, dass der Lebensstil der Millers so nicht zu halten war. Frederick redete mit Clara. Man würde sich einschränken müssen.

      Um die Jahrhundertwende war es eine beliebte Methode der Geldersparnis für großbürgerliche Engländer, ihre herrschaftlichen Villen über den Sommer oder sogar das ganze Jahr zu vermieten und sich derweil im Süden Europas oder im Nahen Osten niederzulassen, wo die Lebenshaltungskosten nur einen Bruchteil der britischen betrugen und das Wetter obendrein besser war. Es gab genügend Touristen vom Kontinent, die sich während der Sommermonate in so reizenden Orten wie Torquay aufhalten wollten, auch Industriekapitäne aus dem Norden zog es sommers an die Küste. Das war nun vorerst die Lösung für die Familie Miller: Sie vermieteten Ashfield, schickten das Personal mit einer Abfindung vorübergehend nach Hause und fuhren nach Südfrankreich. Dem Papa, der seit den schlechten Nachrichten aus Amerika Gesundheitsprobleme hatte, würde das Klima guttun, und für die Jüngste wurde es Zeit, Französisch zu lernen. Solange die Eltern bei ihr waren, machte Agatha gern alles mit, aber sie war jedes Mal nur allzu froh, wenn sie zurück nach Ashfield kam, wenn sie Toni bellen und ihren Kanari piepsen hörte, wenn sie wieder in ihrem eigenen Bett schlafen durfte und es Jane war, die die Mahlzeiten zubereitete. Und wenn sie in der Bibliothek mit einem Buch im Schoß auf dem Boden saß und den schweren süßen Holzgeruch einatmete.

      Der Vater war aber nun krank geworden vor lauter Sorgen um sein Vermögen. Erst suchte er Ärzte in Torquay und London auf, dann kamen die Ärzte nach Ashfield, es wurde viel ausprobiert mit Medizin und Diät, und es hieß, dass Luftveränderungen nun nicht mehr helfen würden. Als Agatha elf Jahre alt war, starb Frederick Miller an einem Herzleiden; das Töchterchen wurde vorübergehend zur Großmutter geschickt, die Mutter war untröstlich, und am Ende – Madge und Monty waren längst aus dem Haus – blieben im großen Anwesen Ashfield nur Clara und ihre Jüngste übrig. »Ashfield ist zu groß für uns beide«, sagte Clara, »und zu aufwendig dazu. Wir müssen es verkaufen.« Die Verzweiflung, die Agatha bei diesen Worten ergriff, war so tief, ihr Schluchzen so fürchterlich, dass Clara erschrak. »Vielleicht können wir es halten«, sagte sie und klopfte Agathas Scheitel, »wenn wir es zwischenzeitlich wieder vermieten.«

      Wie sehr ihre Mama den Mann vermisste, erkannte die Tochter bald, und das Mitleid mit der Mutter mischte sich mit ihrem eigenen Schmerz um den Verlust des Vaters. Manchmal fürchtete Agatha, ihre Mutter könne vor Kummer sterben und schlich nachts an ihr Bett, um sie atmen zu hören. Schwester Madge stand kurz vor ihrer Verheiratung mit James Watts, dem Besitzer des weitläufigen Anwesens Abney Hall nahe Manchester, und Bruder Monty, der nach einer gescheiterten Ingenieursausbildung zum Militär ging, war in Indien stationiert, aber beide machten sich von ihren Verpflichtungen vorübergehend frei und kamen für ein paar Wochen nach Ashfield, um Clara beizustehen. Sie hatten ihrerseits heftig gegen einen Verkauf des Hauses protestiert und stifteten ein wenig Geld für den Erhalt von Ashfield. Zur Trauer um den Papa kam die Enttäuschung, was das Erbe betraf: Außer einer schmalen Pension für Clara und geringfügiger monatlicher Unterstützung für die drei Kinder war nichts geblieben. Jetzt gingen in Ashfield die Kristalllüster aus, Clara konnte es sich nicht mehr leisten, große Gesellschaften oder Bälle zu geben wie in besseren Zeiten. Manchmal ging sie mit ihrer Tochter abends ins Theater, meist aber saß sie einfach nur mit ihr in der Bibliothek, und sie lasen einander ihre Lieblingsautoren vor: Charles Dickens, William Thackeray, Walter Scott und Shakespeare. Clara hielt nichts von schulischer Mädchenbildung, aber um die verwaiste Agatha auf andere Gedanken zu bringen, meldete sie ihre Jüngste nun doch bei einem Institut mit gutem Ruf an, bei Miss Guyers Schule für Töchter höherer Stände. Agatha ging nach anfänglichem Fremdeln gern dorthin, und sie verblüffte alle – auch sich selbst – durch ihre glänzende Begabung fürs Rechnen, aber auch was englische und französische Literatur betraf, konnte sie mithalten. Bei der Orthografie allerdings haperte es weiterhin, und an ihren Aufsätzen bemängelte die Lehrerin ein Zuviel an Phantasie. Was Agatha gefiel, waren die Tanzstunden, auch in Musik war sie stark. Handarbeiten machten ihr großen Spaß, sie strickte gern und bestickte Kissenbezüge – nach Vorlagen oder eigenem Design. An den Nachmittagen kamen die Lucy-Mädchen und nahmen die Freundin mit zum Rollschuhlaufen auf dem Pier oder zum Tennis. Im Sommer ging Agatha für ihr Leben gern schwimmen. Bis ins hohe Alter hat sie an diesem Sport festgehalten und sich immer Gelegenheiten gesucht, ihn auszuüben.

      Für die Sechzehnjährige hieß es dann: Jetzt musst du eine Dame werden. Agatha hatte auch gar nichts dagegen – außer dass ihr die Korsetts den Atem nahmen und die Fischbeinkragen den Hals wund scheuerten. Aber wie alle Mädchen jener Zeit nahm sie das hin. Schwerer wog schon der Abschied von Ashfield – denn für den »letzten Schliff«, wie das damals hieß, war ein Aufenthalt in Paris und ein intensives Studium der französischen Sprache sowie der Sitten, Musik und Küche Frankreichs unumgänglich. Clara verwendete ihre letzten Ersparnisse für Agathas Bildung, sie brachte die Tochter in einem angesehenen Internat unter. Paris war ein Traum, und die Internatsschülerinnen – viele Amerikanerinnen unter ihnen – erwiesen sich als lustige Truppe. Agatha konzentrierte sich vor allem auf die Klavier- und Gesangsstunden; eine tiefe Enttäuschung erlitt sie, als sie bei einem Schulkonzert versagte und sich eingestehen musste, dass es ihr nicht gegeben war, in der Öffentlichkeit Klavier zu spielen. Ihre Nervosität war einfach zu groß, und die wiederum war eine Folge ihrer Selbstzweifel. »Damals ermutigte man junge Mädchen nicht zu musikalischen Karrieren«, schrieb Agatha in ihren Lebenserinnerungen. »Ich bin ganz sicher, dass es im Leben keine größeren Seelenqualen geben kann, als wenn man um jeden Preis etwas erreichen will und doch weiß, dass es bestenfalls zur Mittelmäßigkeit reicht.« Aber singen konnte Agatha problemlos vor Publikum. Sie übte täglich hingebungsvoll. Ihr Lehrer fand, dass sie eine gute Kopfstimme habe und auch ihr Brustton überzeugend sei, aber die mittlere Lage habe nicht genug Kraft. »Das kann ja noch kommen«, sagte sich Agatha und intensivierte die Übungen für die mittlere Lage. Sie freundete sich mit einigen Schülerinnen an und ließ sich vom Reiz des französischen savoir vivre beeindrucken. Tief in ihrem Herzen aber blieb sie davon überzeugt, dass wahre Wohnkultur nirgendwo anders zu Hause sei als in Ashfield und dass die Kochkunst Janes letzten Endes unübertroffen blieb.

      Ihre Pariser Zeit dauerte ein Jahr. Sie war siebzehn, als sie zurückkehrte und sehr froh,

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