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      Herz Sieben

      Die »Linde« zu Grainbach war einer jener magischen Orte, um rituelle Schlachtfeste zu zelebrieren und den Ahnen zu opfern. Was für einen Japaner der Shinto-Schrein und der Sake, waren für einen Bayern das Fass und die Maß. In den Wirtsgärten beschworen die Adepten der überkommenen Bräuche und Traditionen nicht nur die Geister der guten, alten Zeit, sondern frönten auch rein weltlichen Vergnügungen. Diesseits und Jenseits gehörten hierzulande zusammen wie die Sau und der Speck, wie der Mensch und der Dreck. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Beim Wetter allerdings musste man im Oberland mit allem rechnen. Mit Schnee im August wie mit Föhnstürmen im Februar. Vorige Woche hatte ein heftiger Flockenwirbel das frische Grün glasiert. Raureif hatte Feld und Flur überzuckert. Endlich war die Eiszeit passé, der Frühling eingekehrt. Ein laues Lüftchen ließ die ersten Blätter in Bäumen und Büschen rascheln. Die Luft war von samtener Konsistenz, das Licht flauschig und flaumig. Kreidegriffel kratzten Zaubersprüche auf die Schiefertafeln: »Biergarten geöffnet«. Auf den Balkonen stapelten sich die Blumenkästen, bald würde darin das Scharlachrot der Geranien erblühen. Lichtgirlanden schlängelten sich wie Riesenschlangen von Ast zu Ast. Aus den Lautsprecherboxen jodelte alpenländische Folklore, Boarische oder Zwiefacher. Die ersten Starkbier-Striezi suchten sich ein Sonnenplätzchen. Die Haut fahl und fleckig, die Speckschicht stattlich. Der Winter hatte deutliche Schmauchspuren hinterlassen. Die kraftstrotzenden Naturburschen in den alten Heimatfilmen à la »Jäger von Fall« sahen anders aus. Da entsprach der Lindenwirt schon eher dem Archetyp des strammen Mannsbilds: breitschultrige, kräftige Statur, muskelbepackte Oberarme, dazu ein fein gezwirbelter Schnurrbart, der die kantigen Züge perfekt zur Geltung brachte. Wie es sich für einen urtümlichen Gamsbart-Gastronomen geziemte, war er in Loden und Leder gewandet. Mit Adleraugen kontrollierte er, ob vor Ort alles picobello war. Die Inspektion fiel zu seiner vollsten Zufriedenheit aus, sodass er am Rückweg seiner Stamm-Kellnerin Irmi gravitätisch zunickte: »Fesch bist beinand, zum Anbeißen!« Irmi hatte sich auch alle Mühe gegeben: die weiße Bluse, das grüne Dirndl, den rosafarbenen Rock mit Blümchenmuster aus dem hintersten Winkel des Bauernschranks gezerrt. Sogar ein gelbes Bändchen hatte sich Irmi in das zum Zopf gebundene Haar geflochten. Das Bier würde nur so aus den Zapfhähnen schießen, der Appetit auf Schweinshaxen und Zigeuner-Spießchen riesig, das Trinkgeld dementsprechend üppig sein. Noch hatte Irmi Zeit, um die Boazn-Bagage, die sich in ihren speckigen Garnituren um den Stammtisch geschart hatte, auf Touren zu bringen. Das mit animalischen Grunzlauten unterlegte Geknurre mochte bei einem des bayerischen Idioms unkundigen Beobachter den Eindruck erwecken, dass eine Horde Neandertaler die letzte Eiszeit unbeschadet überstanden hatte. Aus heiserer Kehle krächzte der Buchwieser Wigg: »I sog oiwei gegga an Misthaufen kannst ned ostinga!« Der zweite im Bier-Bunde, der Unterleitner Rudl, nuckelte an seinem Glas: »Es ist doch so: Gschlampert macht wampert, das ist ein Gesetz der Natur!« Angesichts dieser tiefgründigen Stammtisch-Weisheiten mochte Trachtenträger Nummer Drei, der Glaserer Gustl, nicht zurückstehen: »Wie beim berühmten Satz des Pythagoras, von nix kummt nix.« Der Vierte in der Zecher-Runde, ein vierschrötiges Mannsbild vom Format des Riesen Goliath, meckerte wie ein Ziegenbock: »Das ist eine Sentenz von Sokrates. Dich haben s’ auch mit Semmelbröseln aus’m Woid rausgelockt.« Unterleitner hatte unterdessen sein Glas geleert und kniff die Kellnerin ungeniert ins gut gepolsterte Hinterteil: »Ah, du Hirnbeiß! Das ist das Paradoxon des Diogenes! Sei so guad und bring mir noch ein Helles!« Irmi rüffelte den ungehobelten Lackel: »Nimm deine dreckerten Pratzen weg, alter Saubär!« Irmi schlug einen geschäftsmäßigen Ton an: »Noch was? Dann muas i ned zwoamoi roaffen!« Die Antwort kam wie aus einer Kehle: »Zwei Halbe Dunkle und ein Weißbier!« Der Riese mit dem Körperbau eines Gorillas, der Wachtveitl Hias, feixte vergnügt: »Dei Vater war a Bräuross ha, i moan bei dem broaden Oarsch?« Die Malz-Matz war nicht auf den Mund gefallen. Mit gekonntem Hüftschwung zeigte sie den Boaznbrüdern ihre rückwärtigen Reize: »Red du nur, du aufgestellter Mausdreck! Erbsen, Bohnen, Linsen – lassen des Oaschal grinsen!« Drei der Stammtischbrüder glucksten, als ob jemand einen zotigen Witz gerissen hätte. Der Wachtveitl Hias murrte griesgrämig in seinen Prinzregenten-Gedächtnisbart: »Weiber sterben is koa Verderben, Vieh verrecka, des ko schrecka!« Es war wie mit Yin und Yang, Tag und Nacht. Eine ewige Polarität, die die Funken fliegen ließ. Ein Scheitl allein im Kamin aber brannte schlecht.

      An Tisch Nummer fünf ging es beileibe nicht so zünftig und fidel zu wie bei den Boaznbrüdern nebenan. Vier Männer saßen schweigend da, ihre Mienen so unergründlich wie die bayerische Seele. Verstohlene Blicke suchten in den Gesichtern ihrer Mitspieler zu lesen. Kryptische, wie von einer Codiermaschine verschlüsselte Sätze waren zu vernehmen: »Auf die Bumms!«, »Den pack i dant!«, »Mit der Oidn, bist gut ghoitn!«, »Hau a Pfund nei!« Das Schafkopf-Vokabular war nur jenen vertraut, die in die Mysterien von Ober und Unter eingeweiht waren. Schafkopf war kein Kinderspiel, nein! Hier wurde die hohe Kunst des Kartelns zelebriert. Jeder der vier suchte zu ergründen, wie es um das gegnerische Blatt bestellt war, welche Trümpfe der Vordermann in der Hinterhand hatte. Den Blauen, den »Alten« gar? War er farbfrei, in Schellen, in Eichel? Dem Habichtsblick eines erfahrenen Zockers entging nichts, kein Zucken im Mundwinkel, kein Zeichen des Zögerns und Zauderns. Es galt die Absichten des Gegners zu erahnen, im richtigen Moment einzustechen, um mit einem Stich möglichst viele »Augen« einzustreichen. Eine Sau zählte 11, der Zehner 10, der König 4, ein Ober 3, ein Unter 2 Augen. Die »Luschen«, also Neuner, Achter und Siebener waren »Nullen«. 120 Augen respektive Punkte waren im Spiel, mit 61 war der Sack zu. Und allein darum ging es.

      Fair Play war am Kartentisch verpönt, da ging es derb und deftig zu. »So eine Sudsau, so eine verreckte!«, »Abgestochen hätte die Sau gehört!«, »Die Farbe musst du nachspielen, du Trottel!« Das Meckern, Schimpfen und Granteln gehörte einfach zum bayerischen Naturell. Sepp Sonnleitner war ein Parade-Bayer und ein ausgebuffter Kartenfuchser dazu. Schafkopf und Tarock waren für Sonnleitner das, was für Okkultisten und Nekromanten das Tarot war. Mit Argusaugen verfolgte er das Spielgeschehen. Sein Bordcomputer lief auf Hochtouren. Ein eingefleischter Kartler wusste stets, wie viele Punkte bereits vergeben waren. Sein Nebenmann stupste ihn unter dem Tisch an. Ein sicheres Zeichen, dass sein alter Spezl Vitus »Veitl« Rabensteiner ein mieses Blatt hatte. Bei ihm sah es indes nicht besser aus. Fortuna war ihm nicht gewogen. Er lugte zu Rabensteiner hinüber, der wie aus dem Landei gepellt war: kuhbraune Lederhose, blau-weiß kariertes Hemd, samtschwarzes Gilet mit rot paspelierten Taschen, fichtengrüner Trachtenhut mit Band und Kordel. Von der Statur her glich Rabensteiner einem Sumo-Schwergewichtler. Mit seinen Bären-Pranken, den muskulösen Oberarmen und dem Brustkorb eines Zugochsen flößte er jedem potenziellen Gegner Respekt ein. Zweifelsohne war Veitl ein beeindruckendes Exemplar der Gattung Homo Alpiniensis. Doch da war mehr Schein als Sein. Rabensteiner mochte den Macho-Macker geben, doch daheim hatte er nichts zu melden. Da hatte seine Gemahlin Irina, eine ebenso rassige wie streitlustige Wolgagermanin, die Hosen an. Zu allem Überfluss hatte Madame Rabensteiner beschlossen, ihren Gatten vorerst von Tisch und Bett zu verbannen. Veitl war »auf Bewährung« und logierte draußen im Gartenhäuschen. Die häusliche Situation war also suboptimal und der Druckkessel drohte zu platzen: »Was ist jetzt, Erwin? Wird das heut’ noch was oder scheißt dir in die Hosen?«

      Ehgartner ließ solche Verbalinjurien nicht unkommentiert. »Geduld ist die Mutter vom Gulasch. Wir sind hier nicht beim Watten oder Grasobern. Das richtige Anspiel will wohlüberlegt sein.« Das hämische Grinsen schürte in Sonnleitner die Befürchtung, dass der niederträchtige Loden-Loder ein Bombenblatt hatte. Ehgartner war listig wie ein Fuchs, gerissen wie ein Waschbär und nachtragend wie ein Elefantenbulle. Mit seinem Stiernacken, den walzenförmigen Wadeln und dem grellrot glasierten Sauschädel sah er aus wie der Zwillingsbruder der bayerischen Polit-Ikone FJS. Sein vulkanisches Temperament und sein Jähzorn waren gefürchtet. Zumal er ohne Umschweife mit der Zielstrebigkeit eines Presslufthammers in den »Infight« ging.

      Kartler Nummer vier riskierte eine dicke Lippe: »Ist dir der Erzengel erschienen oder hast grad dein Damaskuserlebnis? Ich hätt’ ein Spiel!«

      Ehgartner mimte den jovialen, vor Selbstgefälligkeit strotzenden Großbauern. »Schaut schlecht für dich aus, mein Freund. Ich sitz vorn!« Sepp Sonnleitner scannte zum wiederholten Mal seine Karten, doch sie wurden nicht besser. Zwei Säue, der Herz Zehner, zwei Könige, drei windige Luschen. Trümpfe – Fehlanzeige. Obendrein war die Gras Sau blank,

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