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während sich in ihrem Nacken und dem Rücken der Muskelkater weiter ausbreitete. Es schien, als habe ihr Körper nur darauf gewartet, dass sie stark genug war, um die Schmerzen zu ertragen, die er ihr bislang vorenthalten hatte. Doch sie erkannte, wie gut es ihr eigentlich ging. Der Anblick des völlig zerstörten Autos blitzte durch ihre Gedanken. Die roten Blasen auf dem Airbag. Ada zitterte und zog die Bettdecke fester um sich.

      Ein Krankenpfleger in fliederfarbener Uniform kam herein, lehnte zwei Krücken an ihren Besucherstuhl und überreichte ihr ein in Plastik eingeschweißtes Päckchen, in dem sich offenbar eine identische Pflegeruniform befand.

      »Die müssen Sie aber bitte wieder zurückbringen«, sagte er.

      »Natürlich«, erwiderte Ada dankbar.

      Der Pfleger lächelte und verschwand aus dem Zimmer.

      Sie riss die Plastikverpackung auf und streifte sich das T-Shirt über. Die Hose bereitete ihr Schwierigkeiten, da sie ihr verletzten Knie nicht anwinkeln und den schmerzenden Rücken kaum vorbeugen konnte, doch sie wollte nicht schon wieder um Hilfe bitten. Als sie es endlich geschafft hatte, sich hineinzuwinden und auf der Bettkante sitzend versuchte, das Pochen in ihrem Körper wegzuatmen, klopfte es erneut an der Tür.

      Zwei uniformierte Polizisten – ein Mann und eine Frau – traten ein.

      Sie waren jung, sicherlich jünger als Ada und zeigten offene, freundliche Gesichter. Es war nichts bedrohlich an ihnen, wenn man von den schusssicheren Westen und den obligatorischen Schusswaffen am Gürtel absah, und doch war Ada, als zöge sich ihr Innerstes zu einem Eisblock zusammen. Nichts wünschte sie sich mehr, als dass die Polizisten sie allein ließen und ihr keine Fragen stellten!

      »Grüß Gott, ich bin Polizeimeisterin Wagner, das ist mein Kollege Polizeioberwachtmeister Ertl.«

      »Hallo …«, brachte Ada schwach heraus.

      »Wie geht es Ihnen?«, fragte die Polizistin freundlich und reichte Ada zur Begrüßung die Hand. In der Linken trug sie eine schwarzlederne Aktenmappe.

      »Ganz gut, danke.«

      »Wir konnten am Unfallort zwei Ausweise sichern und so Ihre Personalien feststellen. Sie sind Ada König, richtig?« Die Polizeimeisterin holte aus der Mappe eine Plastiktüte mit rotem Reißverschluss, in der Ada ihren Personalausweis erkannte.

      »Ja.«

      »Und der Fahrer des Wagens war Ihr Vater, Frank König.«

      »Genau.«

      »Wir sind hier, um Ihnen ein paar Fragen bezüglich des gestrigen Autounfalls zu stellen. Ist das in Ordnung, oder möchten Sie die Vernehmung lieber zu einem anderen Zeitpunkt durchführen?«

      Ada zögerte. Am liebsten würde sie überhaupt nicht über den Unfall sprechen, aber jetzt waren die Polizisten schon einmal hier und da es sicherlich nicht angenehmer wurde, konnte sie die Sache auch gleich hinter sich bringen. »Ist schon in Ordnung. Was wollen Sie denn wissen?«

      »Falls Sie nichts dagegen haben, würden wir die Befragung mit der Stenorette aufzeichnen«, sagte der Polizist Ertl, und holte ein schmales, graues elektronisches Gerät aus seiner Jackentasche, das verdächtig nach einem Diktiergerät aus dem letzten Jahrtausend aussah.

      »Na klar, kein Problem.«

      »Gut«, sagte Ertl und drückte auf einen Knopf. »Vernehmung von Ada König am dritten September im Klinikum Rechts der Isar. Gestern um fünfzehn Uhr zwanzig wurden Sie mit dem Rettungswagen hierher gebracht. Laut Aussage der Rettungssanitäter waren Sie an einem Verkehrsunfall beteiligt. Können Sie uns bitte den Unfallhergang schildern?«

      »Ich war mit meinem Vater essen. Auf dem Nachhauseweg stand plötzlich ein …« Sie stockte. Was war auf der Straße gewesen?

      Ihr war, als würden die Bilder in ihrem Kopf an dieser Stelle flimmern, wie Luft über einer heißen Straße. Ein Teil ihrer Erinnerung wusste, dass es sich um ein Reh gehandelt hatte. Das siebte Reh, ein rotbraunes Tier mit aufgerichteten Ohren und goldenen Augen. Ein anderer Teil war sich sicher, etwas anderes gesehen zu haben. Aber was? Allein schon die Vorstellung jagte ihr erneut Eisschauer über den Rücken. Was war hinter den flimmernden Gedanken? Stand da ein Mann? Was für ein Mann? Ihr Atem ging schneller, Übelkeit und Hitze stiegen in ihrem Rachen auf. Was war nur los mit ihr?

      »Ein Reh!«, platzte sie heraus. »Ein Reh stand auf der Fahrbahn. Da hat mein Vater das Lenkrad verrissen und wir sind in den Graben gefahren.« Das hörte sich plausibel an.

      »War es ein Reh oder ein Rehbock?«, fragte Polizeimeisterin Wagner.

      »Ein Reh. Es hatte kein Geweih.«

      »Und das ist auf die Straße gesprungen.«

      »Es stand auf der Straße.« Ganz deutlich konnte sie sich das Reh ausmalen. Aber es war ein erfundenes Reh, eines, das wie ein Flicken einen Riss im Bild überdeckte.

      »Es stand die ganze Zeit auf der Fahrbahn?«

      »Ja, nein, was weiß ich … Ich habe nicht gesehen, wie es auf die Straße gesprungen ist. Es war einfach plötzlich da.«

      »Waren noch andere Rehe in der Nähe zu sehen?«

      »Ja, auf der linken Seite, also auf der Seite meines Vaters.«

      »Kann es sein, dass Ihr Vater sich durch die Rehe neben der Fahrbahn ablenken ließ?«

      »Keine Ahnung … wir sind gefahren, da war ein Reh und mein Vater hat zur Seite gelenkt. Das ging alles so schnell.«

      »Befanden sich außer Ihnen und Ihrem Vater noch andere Personen im Fahrzeug?«

      »Nein.«

      »Waren noch andere Verkehrsteilnehmer an den Unfall beteiligt?«

      Ein Mann. Irgendwie war da noch ein Mann. »Nur das Reh.«

      »Sie müssten dann noch eine Wildunfallbescheinigung ausfüllen. Das ist wichtig für Ihre Versicherung«, sagte Polizeioberwachtmeister Ertl hilfsbereit. »Wir werden den zuständigen Jagdpächter informieren.«

      »Warum?«

      »Wir haben am Unfallort kein totes Tier entdeckt. Es könnte verletzt sein und sich verstecken.«

      »Aber wir haben das blöde Vieh doch gar nicht berührt!«

      Etwas in der Jackentasche der Polizistin piepste. Sie gab ihrem Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen, die Aufnahme zu pausieren, und holte dann ein Funkgerät hervor.

      »Ja bitte?« Sie lauschte hinein, nickte und verzog dann das Gesicht. »Ja, verstanden. Wir kommen gleich.« Dann zu Ada gewandt. »Tut mir leid, wir müssen sofort los. Ein Notfall. Wir werden die Vernehmung zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Können Sie zu uns auf die Wache …« Sie ließ den Satz unbeendet, als ihr Blick auf Adas dick verbundenes Knie fiel. »Wissen Sie was? Wir kommen noch mal vorbei. Das ist, denke ich, einfacher. Am besten, Sie geben uns eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können.« Ada sprach die Nummer noch auf das Diktiergerät und schon waren die beiden verschwunden.

      Als die Tür ins Schloss fiel, ließ Ada die Atemluft zischend entweichen. Seit der Uni-Abschlussprüfung hatte sie keine solche Erleichterung mehr verspürt, dabei hatte sie den Polizisten doch alles gesagt, was sie wusste, alles, was wirklich passiert war. Und trotzdem fühlte es sich irgendwie falsch an, unvollständig. Die Sekunden zwischen dem Augenblick, als noch alles normal gewesen war, und dem Aufprall dehnten sich ins Unendliche. Die Erinnerung an ihren eigenen Schreck jagte jedes Mal neue Schübe Adrenalin durch die Glieder und Schweiß auf ihre Haut. Es war unerträglich und gleichzeitig so intensiv und unmittelbar, dass sie es immer und immer wieder nachfühlen wollte. So wie man eine schmerzende Wunde immer wieder berührte, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Und dann ihre Gedanken. Dieser eine Gedanke, der in ihrem Kopf brannte wie ein unsichtbarer Glassplitter im Fleisch.

      Sie hatte um ihr Leben gefleht. Nur um ihr eigenes, nicht um das ihres Vaters. Aber was waren schon

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