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und Obstschnitzer holen ließ, immer mit der Begründung, sie würde ja eines Tages Königin werden und er wie sein Vater nur Maurer. Da hatte ihre Mutter sich vor Josef hingekniet und ihm mit allem Ernst der Welt erklärt: »Glaub nicht jeden Mist, den Ada dir erzählt. Sie ist keine Prinzessin. Nur ein ganz normales Mädchen.« Ada hatte sich schrecklich geschämt und lange Zeit nicht mehr mit ihm spielen wollen. Aber irgendwann hatte er gesagt, es sei ihm egal, ob sie eine echte Prinzessin sei oder nicht und von ihm aus könne sie gerne auch Maurerin werden. Von da an hatten sie wieder gemeinsam gespielt. Sie hatten als Waisenkinder in den Bäumen gelebt, als Piraten Dämme in den Nebenarmen der Peining gebaut und im Gebüsch ihr Räuberlager aufgeschlagen.

      »Ada. Ada, was ist nur mit dir?« Ihr Vater holte sie aus ihren Gedanken. »Es ist mir ein Rätsel, wie du in der Arbeit zurechtkommst, wenn du immer so verträumt bist. Hast du mir überhaupt zugehört?«

      »Ja, klar. Du hast schon wieder über die Nachbarn geschimpft.«

      »Ich schimpfe gar nicht. Ich will dir einfach nur einen Überblick über die Situation verschaffen.«

      »Okay. Das hast du die ganze Fahrt über gemacht. Du hast doch vorhin gesagt, dass du etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hast. Also, was ist denn so wichtig? Bist du krank?«

      »Nein.« Er drehte sich um, doch die Leute an den anderen Tischen schienen ihn nicht zu beachten.

      Ada wusste, dass ihn das nervös machte, denn er war es gewohnt, immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Berufskrankheit der Lehrer, dachte Ada. Er selbst hatte wenige Tage vor seiner Pensionierung zu ihr gesagt: »Weißt du, wovor ich mich fürchte? Davor, dass ich keine Macht mehr habe.« Sie hatte gelacht, doch schon bald war ihr bewusst geworden, wie ernst er es gemeint hatte. Natürlich hatte er Macht gehabt: erst über das Leben der Schüler, jedes Jahr wieder von Neuem. Und dann, seit er im Rektorat gewesen war, die Macht über die anderen Lehrer. Ada hatte sich bis dahin kaum mehr Gedanken über seinen Arbeitsalltag gemacht. Sie war vorangekommen: Schule, Uni, Beruf. Und er war in der vierjährigen Endlosschleife der Grundschule gefangen gewesen. Irgendwie deprimierend. Aber das hatte sie ihm nicht gesagt.

      Solange sie klein gewesen war, hatte sie es genossen, vier Jahre lang mit ihm zusammen zur Schule fahren zu können. Sie hatte sich wie ein Star gefühlt, war das Kind des Königs gewesen. Sie wusste, dass kein Lehrer es wagen würde, sie ungerecht zu behandeln – zu ihren Ungunsten. Und dass kein Schüler ihr etwas zuleide tun würde, solange der König über seine Noten urteilte. So hatte sie die Grundschule in einer Blase aus Sicherheit und Leichtigkeit hinter sich gebracht, die bereits am zweiten Tag auf dem Gymnasium zerplatzt war. Ein Kind hatte sie angerempelt, ein anderes war auf ihre Brotzeitdose getreten. Und keiner hatte ihr geholfen. Keiner hatte gesagt: Lasst sie in Ruhe, sie ist doch die Tochter vom König! Nein, niemanden hatte es interessiert. Da hatte sie erkannt, wie klein sein Königreich gewesen war. Er aber wusste es bis heute nicht. Für ihn war er immer noch das Zentrum der Welt.

      Das Bier kam und sie stießen an. Ada trank durstig das halbe Glas leer, ihr Vater nippte nur vorsichtig und wischte sich danach den Schaum aus seinem weißen Bart. Er hatte ihn erst heute Morgen frisch geschnitten.

      »Gut, du bist nicht krank. Ein Glück!«, sagte Ada und fühlte sich gleich ein bisschen wohler. Ihr Vater wurde alt und es war nur eine Frage der Zeit, bis er gebrechlich und krank werden würde. Doch dieser Tag war nicht heute. Nicht heute. Mit einem Lächeln legte sie ihre Hand auf seine. »Was ist es dann?«

      »Ich komme schon noch dazu. Lass mich dir doch erst mal in Ruhe ein paar Dinge erklären. Also, das Grundstück rechts neben uns …«

      Es ging wieder los. Ada stellte ihren Blick in die Unendlichkeit und beobachtete, wie das Gesicht ihres Vaters immer weiter im Raum verschwand, obwohl es unbeweglich an der gleichen Stelle verharrte. Er redete unablässig von den Nachbarn, vom Grundstück rechts neben seinem, von dem Bauantrag, von den zu erwartenden Bauarbeiten. Vom Lärm, von den Baufahrzeugen, die die Straße versperren würden. Davon, dass sie sicherlich wegen der Bäume Ärger machen würden, obwohl doch jeder wusste, dass er seine Bäume nur fällte, wenn er es für richtig hielt. Und den Meister würde er unter keinen Umständen fällen. Dass die Nachbarn die schöne Natur gar nicht zu würdigen wüssten und die Ruhe zerstören würden. Wie dumm die Bauherren sein müssten, weil sie sicher einen nassen Keller bekommen würden, wenn sie unten am Hang neben dem Lauf der Peining bauen würden, und dass das Ganze sowieso nur genehmigt worden sei, weil die Dorfgrenze verschoben worden war. Und überhaupt: Es sei eine Schande, wie die Bauvorschriften und die geltungssüchtigen Lokalpolitiker sich in die Privatsphäre der Bürger einmischten. Politiker seien das Letzte, unfähig und korrupt, allesamt.

      Noch ehe die Suppe kam, hatte der König bereits die gesamte politische Elite Deutschlands, Frankreichs und der USA als unfähig entlarvt, das System der Demokratie für gescheitert erklärt und ihm den baldigen Untergang prophezeit.

      Ada hörte all dies und hörte es doch nicht. Es waren die immer gleichen Themen, die immer gleiche leichte Überheblichkeit gepaart mit wachsender Bitterkeit, die ihr Unbehagen bereitete. Früher hatte sie sich gerne mit ihm unterhalten, das heißt, sie hatte gerne seinen Vorträgen gelauscht, die sich über scheinbar jedes beliebige Thema erstrecken konnten. Im Studium hatte die Fassade erste Risse bekommen. Ada hatte ihren Vater immer wieder dabei ertappt, dass er Fehler machte. Er behauptete Dinge, von denen er offensichtlich keine Ahnung hatte, und drehte die Gewichtung der Fakten so, dass sie in seine Argumentation passte, oder er stellte die Datenbasis als Ganzes infrage. Wenn sie ihn auf die Fehler hinwies, wurde er entweder wütend oder herablassend. Niemals ließ er sich von seiner Meinung abbringen. Zu dieser Zeit hatte Ada viele Kämpfe mit ihm ausgefochten und keinen von ihnen gewonnen. Meist war sie irgendwann wutentbrannt nach Hause gefahren, hatte allein im Auto die Diskussion mit ihrem imaginären Gesprächspartner weitergeführt und ihm all die Argumente, Flüche und Beschimpfungen entgegengebrüllt, die ihr in der echten Auseinandersetzung nicht eingefallen oder nicht angemessen erschienen waren. Und meist hatte sie dann, kaum zu Hause, bei ihm angerufen und Frieden geschlossen, was sich wie eine weitere Niederlage angefühlt hatte.

      Irgendwann hatte sie eingesehen, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnte ihm bei jedem Satz widersprechen, oder es einfach sein lassen. Nichts würde sich für ihn ändern, sich selbst ersparte sie aber eine Menge Ärger. Der Preis war ihr Respekt für ihn. Sie konnte seinen ewigen Redeschwall nur ertragen, wenn sie ihn nicht mehr ernst nahm. Sie wusste nicht, ob er sich dessen bewusst war. Zumindest schien es ihn nicht zu stören. Also hielt sie sich raus. Nur manchmal versagte die Strategie und sie ließ sich doch wieder in eine dieser sinnlosen Diskussionen verwickeln.

      Als sie ihr Schnitzel, die Pommes und den kleinen Beilagensalat bis zum letzten Tropfen Soße verspeist hatte, hatte er gerade mal das zweite Stück Fleisch auf der Gabel, die jedoch verwaist auf dem Teller lag, weil er beide Hände zum Argumentieren benötigte.

      »Und dann verkaufen die im Rewe die Milch für unter einem Euro, stell dir das vor!«

      »Dann kauf doch woanders«, erwiderte Ada schwach. Sie freute sich schon darauf, auf dem Sofa im Wohnzimmer ein Nickerchen zu machen.

      »Nein, nein, ich bin ja nur der Kunde. Selbstverständlich kaufe ich da, wo es am billigsten ist. Das machen alle anderen ja auch so. Warum sollte ich für das gleiche Produkt mehr Geld zahlen?«

      »Dann kauf bio. Dann hast du ein anderes Produkt.«

      »Ach, Ada. Lass dich doch nicht für dumm verkaufen. Bio ist doch alles Betrug. Der Rewe soll die Milch zu anständigen Preisen von den Bauern kaufen. Sonst verlieren die ihre Existenzgrundlage. Und dann können sie den Preis ja teurer machen. Und dann kaufen es die Leute auch, weil sie keine Alternative haben.«

      »Wenn du das Problem erkannt hast, dann handle doch entsprechend und mach da nicht mit. Es gibt auch Läden, in denen die Milch teurer ist.«

      »Ja, aber das stecken ja die Verkäufer ein, diese Verbrecher. Nein, ich als Verbraucher habe von allen am wenigsten Geld, ich kaufe da, wo es am billigsten ist.«

      Ada presste die Lippen aufeinander. Alles, was sie jetzt sagen wollte, würde nur zu Streit führen. Um sich abzulenken, ging

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