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eines dunkelhaarigen Jungen gelegt hatte.

      In diesem Augenblick näherten sich dem Parkplatz vier weitere Fahrzeuge. Inka erkannte den neuen Wagen ihres Kollegen Mark Freese, den er gegen seinen biergelben Minicooper getauscht hatte. Als Familienvater eines drei Monate alten Sohnes hatte er mit seinem Siebensitzer für weiteren Kindersegen vorgesorgt.

      Mark war seit Schulzeiten ein Freund, ein Kollege, den ein Zimthauch umgab, den er wie eine Schleppe hinter sich herzog. Sie wusste immer, in welchem Raum er sich aufgehalten hatte, obwohl er den längst verlassen hatte. Keksfabrik Freese & Söhne & Söhne, eine traditionsreiche Familie, in der er bei seinen Eltern sporadisch aushalf und mit kreativem Gespür neue Gebäcksorten entwickelte. Hinter Marks Wagen folgte Oberkommissar Jacob Amselfeld in einem Streifenwagen. Zwei weitere Wagen, schwarze SUVs, hielten mit knirschenden Reifen vor der Schranke, die den Parkplatz von dem beginnenden Naturschutzgebiet trennte. Ein Elternpaar stieg aus und eilte zu einem dunkelhaarigen Mädchen. Aus dem zweiten SUV schlüpfte eine zierliche Frau mittleren Alters. Noch bevor Inka den Parkplatz überquert hatte und bei den Jugendlichen angekommen war, ging auch schon das Donnerwetter los. Ein Elternpaar schimpfte wie wild auf seine Tochter ein, sodass Rommel Mühe hatte, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.

      „Inka Brandt, Wache Hanstedt“, stellte sich Inka vor und hielt ihren Ausweis in die Runde der immer mehr eintrudelnden Eltern. „Ich möchte um Ruhe bitten. Hauptkommissar Mark Freese und ich“, Inka nickte zu Mark, „wir werden gleich zu Ihnen kommen. Wir bitten Sie, sich noch ein wenig zu gedulden.“

      „Hören Sie, Frau Kommissarin, es ist mitten in der Nacht, ich habe in ein paar Stunden zu arbeiten, und ich muss …“

      „Es ist früh am Morgen“, berichtigte Inka und sah einem kleinen dicken Mann mit schütterem Haar in graue Augen. „Sie werden warten, wie alle anderen auch, Herr …“

      „Grünhagen. Steuerkanzlei Sigfried Grünhagen. Und dies ist mein Sohn Maximilian.“ Grünhagen nickte zu einem blonden Lockenkopf, der Inka um einen Kopf überragte und sie aus wasserblauen Augen linkisch angrinste. „Was er auch angestellt hat, es wird bis morgen Zeit haben“, drängelte Grünhagen. Er warf seinem Sohn einen strengen Blick zu, woraufhin dessen Grinsen sofort einfror.

      „Herr Grünhagen, wir wurden alle an diesem frühen Morgen aus den Federn gescheucht. Und niemandem gefällt es, in der Kälte zu stehen. Sie können sich in Ihren Wagen setzen, doch sollte Ihnen einfallen wegzufahren, wird mir etwas einfallen, Sie aufzuhalten. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe eine Leiche zu begutachten.“ Sie warf einen kurzen Blick in die Runde der Elternpaare, drehte sich um und ging ein paar Schritte Richtung Schranke.

      „Ist das Opfer tatsächlich der Biolehrer der Schüler?“, fragte sie Faller, der abseits der Elterngruppe auf seinem Handydisplay tippte.

      „Ja. Hendrik Schubert. Biologielehrer aus dem Amelinghausener Pastor-Bode-Eliteprivatgymnasium“, sagte er und steckte das Handy in die Jackentasche. „Unterrichtet hat der Biolehrer alles reiche Schnöselkinder, die mit dem goldenen Löffel im A…“ Er zögerte. „Na ja, die haben nix anderes zu tun, als Blödsinn anzustellen und die Nase in den Wind zu halten, während ihre Eltern mit ihrer Arbeit beschäftigt sind. Arzt, Rechtsanwalt, Autohaus, Steuerkanzlei, Schauspieler, Unternehmer und so weiter. Die Kindererziehung, geschweige Aufmerksamkeit für den Spross, bleibt auf der Strecke. Was zählt, sind das Bankkonto und die Karriere. Alles Menschliche wird dem Kindergarten, der Schule oder irgendjemandem überlassen und vergessen oder verdrängt, dass es ihre Kinder sind, die ihnen entgleiten. So läuft das heute. Natürlich nicht bei allen Eltern, so weit lehne ich mich nicht aus dem Fenster.“ Kollege Faller hatte sich in Rage geredet, wie immer, wenn es um das Thema Kinder ging.

      Inka schenkte den Worten ihres Kollegen ein Nicken. Auch Tilly, Paulas Tagesmutter, berichtete über Kinder, die als Anhängsel oder Standessymbol am Rande der Familie mitliefen, in der die eigene Bequemlichkeit oder Karriere einen präsenteren Platz einnahm.

      „Gibt es eine Überwachungskamera an der Außenfassade des Café-Restaurants?“ Inkas Blick schweifte zum Seestübchen, das im Bungalowstil mit dem weißen Anstrich und dem grauen Ziegeldach verlassen dalag. Der Laubteppich, der sich vor dem Eingang ausgebreitet hatte, verriet, dass hier in letzter Zeit kaum Betrieb geherrscht hatte. Es war Winterpause.

      „Das weiß ich nicht.“ Faller zuckte die Schultern. „Ich sehe nichts.“

      „Kümmere dich darum. Wo geht’s zur Brücke?“

      „Hinter der Schranke geradeaus, nach ungefähr zweihundert Metern müsst ihr links auf die Brücke. Teresa und Kollege Amselfeld erwarten euch.“

      „Danke“, sagte sie zu dem Mittdreißiger. „Achte darauf, dass mir keiner von der Bande stiften geht. Und sperre hier alles ab“, warf sie ihm über die Schulter zu.

      Mittig auf der Holzbrücke, die über die Lopau führte, lag ein Mann. Zerrissen und blutdurchtränkt hing seine Kleidung an seinem Oberkörper herunter. Eine Hand steckte in der Hosentasche seiner Bluejeans, die andere lag über dem Steg. Mit offenen Augen starrte er in den sternenfunkelnden Himmel.

      „Du meine Güte, das sieht ja wie eine Hinrichtung aus“, sagte Inka. Sie nickte Amselfeld zu und begrüßte ihre Freundin, Rechtsmedizinerin Teresa Hansen, mit einem Kuss auf die Wange.

      „Das kann man wohl sagen. Es geht immer noch grausamer. Guten Morgen, Süße, Mark“, erwiderte die sportliche Mittvierzigerin.

      „Was denkst du, Terry? Was war das für ein Messer, das ihn so zugerichtet hat?“, fragte Mark. Sein Blick lag auf den Holzbohlen und dem Blut, das sich fast schwarz wie eine Öllache verteilte.

      Teresa schüttelte den Kopf. „Mit einem Messer zu töten, ist eine sehr persönliche Sache. Es steckt viel Wut dahinter. Doch sehe ich mir die Schnittwunden in Gesicht-, Brust- und Bauchbereich an, … haltet mich bloß nicht für verrückt …“, Teresa zögerte und warf Inka, Mark und Amselfeld einen irritierten Blick zu, „… haben scharfe Krallen die Wunden verursacht. Ich würde sagen, er hat mit einer Bestie, einem Werwolf, gekämpft.“

      Ein banges Gefühl machte sich in Inka breit. Sie fühlte sich nie gut, wenn sie mit solchen Absurditäten konfrontiert wurde. Viele mystische Geschichten geisterten durch die Lüneburger Heide. Doch das war für sie nur hanebüchener Unsinn. Weder glaubte sie an Geister noch an irgendwelche Spukgeschichten, dafür war sie zu sehr Realistin. Dennoch spürte sie, wie sich eine Gänsehaut über ihre Arme legte.

      „Das ist doch Blödsinn, Terry. Es gibt keine Werwölfe in der Heide … Wer glaubt solch einen Mist?“, sagte Inka.

      „Ich bin ganz deiner Meinung. Aber sieh dir dies an.“ Teresa leuchtete mit der Taschenlampe über den Kopf des Toten.

      „Das ist ein Fußabdruck“, sagte Inka.

      „Und zwar ein gewaltig großer Fußabdruck, der nicht von einem Schuh stammt“, stimmte Mark zu. „Der sieht tatsächlich aus wie von einem riesigen Tier. Oder, Kollege Amselfeld, was sagen Sie?“ Mark drehte den Kopf zu seinem Kollegen, der zwei Meter abseits mit dem Rücken am hölzernen Brückengeländer lehnte.

      Jacob Amselfeld nickte. Er war müde und gähnte. „Sicher war es ein Tierwesen, ein Mensch in einem Pelzkostüm“, sagte er.

      „Sie sprechen von einer Fetischgeschichte, Kollege.“ Aus der Hocke sah Inka zu Amselfeld hoch.

      „Wäre möglich. Allerdings müssen wir zwischen Petplayern und Pelzliebhabern unterscheiden.“

      „Können Sie sich genauer ausdrücken?“, drängelte Inka, während sie aus der Hocke aufstand.

      „Es gibt die Petplayer, bei denen einer den dominanteren Part, der andere den devoteren Part spielt. Ein Partner verkleidet sich als Pferd, Zebra, Hund oder beliebiges Tier, das vom anderen Partner dressiert und dominiert wird. Es ist eine Erotik, die nur im Kopf stattfindet. Wobei die Petplayer diese sogar öffentlich zur Schau stellen, indem sie durch Parks oder auf Straßen herumlaufen oder ­-fahren. Die anderen sind die Pelzliebhaber. Menschen, die ihr zweites Ich ausleben. Anhänger gibt es auf der ganzen Welt. Sie verkleiden

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