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anderen Tochter geschehen sein konnte. War sie auf der Fahrt mit ihrem Freund nach Tübingen ebenfalls in die Hände von Kidnappern geraten? Er wollte die beiden Gangster lieber gar nicht danach fragen. Wieder quälten ihn auch in diesen Stunden die schmerzhaften Erinnerungen an seine Frau, die vor zwei Jahren freiwillig aus dem Leben geschieden war; ein Schicksalsschlag, den er nie würde verdrängen oder überwinden können.

      Als plötzlich das Licht angeknipst wurde, fühlte er so etwas wie Erleichterung, obwohl das Schlimmste noch bevorstand. Der Uniformierte, der sich als Wortführer hervortat, gab das Kommando. Er werde jetzt Marion in ein sicheres Versteck bringen, wo ihr nichts geschehe, wenn ihr Vater die geforderten Millionen besorge, erklärte er so emotionslos, als rede er von einem ganz normalen Vorgang.

      Marions Herz raste. Sie hatte unbändige Angst. Seifritz’ flehende Bitte, seine Tochter freizulassen, war nicht mehr als der vergebliche Versuch eines verzweifelten Vaters, die Gangster umzustimmen. Erneut spürte er, dass sie sich von ihrem Plan nicht würden abhalten lassen. Komme da, was da wolle. Als die Fesseln von den schmerzenden Handgelenken gelöst waren, umarmte Marion ihren Vater und weinte.

      »Es passiert nichts, wenn wir das Geld kriegen«, stellte der falsche Polizist klar und forderte die junge Frau auf, Schlafsack, Wolldecke, Handschuhe und Wollmütze zusammenzupacken.

      Seifritz war für einen weiteren Moment erneut geschockt, weil er angesichts der geforderten Utensilien befürchtete, sie würden Marion mehrere Tage in ihrer Gewalt behalten: »Wie lange soll das denn gehen?«

      »Bis wir das Geld haben«, keifte der mit dem Trenchcoat, während der falsche Polizist sie unsanft die Treppe hinab in die Diele zerrte. Dort öffnete er vorsichtig die Haustür, vergewisserte sich, dass niemand auf der nur spärlich beleuchteten Wohnstraße unterwegs war, und deutete zu einem Verbindungsweg hinüber, der in der Stille des kalten Wintermorgens lag. Marion überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte, aber der Gedanke an ihren Vater, der sich in der Gewalt des anderen Gangsters befand, hielt sie davon ab. Der harte Griff, mit dem sie der Mann am Oberarm vorwärtszerrte, während sie Decke und Schlafsack festhielt, ließ jeden Fluchtgedanken im Keim ersticken.

      Eine halbe Minute später hatten sie über den verwilderten Fußweg die nächste Wohnstraße erreicht, die hier mit einer Wendeplatte endete. Am Fahrbahnrand standen mehrere Fahrzeuge, auf die ihr Entführer zuhielt. Marion vermutete, dass sein Ziel eine helle Limousine war, vermutlich ein Audi. Beim Näherkommen glaubte sie, ein WN-Kennzeichen für Waiblingen erkannt zu haben. Aber viel zu schnell hatte sie der Mann zur linken hinteren Tür bugsiert, diese geöffnet und nun charmant flüsternd gesagt: »Bitte einsteigen.« Marion tat wortlos, was ihr befohlen wurde. Sie musste sich auf den Rücksitz legen, sich vollständig in die Decke einhüllen und die Wollmütze tief ins Gesicht und somit über die Augen ziehen. Sie sollte nicht sehen, wohin die nächtliche Fahrt ging.

      Der Gangster setzte sich hinters Steuer, ließ die Tür sanft zufallen und fuhr zügig los. Marion wagte nicht, den Kopf zu heben. In der Dunkelheit hätte sie aus ihrer liegenden Position heraus auch nichts von der Landschaft erkennen können. Stattdessen versuchte sie, sich anhand der Kurven und Abbiegevorgänge die ungefähre Route vorzustellen. Ihrem Gefühl nach zu urteilen, waren sie vom Göppinger Stadtrand gleich in die Vororte gefahren, Richtung Bartenbach und hinüber nach Rechberghausen. Vermutlich ging es zu den Anhöhen des Schurwaldes hinauf und dann hinüber ins Remstal. Jedenfalls zunächst bergauf.

      Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit schon verstrichen war, als der Wagen deutlich spürbar von der Hauptverkehrsstraße abbog und offenbar auf kleineren, holprigen Wegen weiterfuhr. Wenig später schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Der Wagen stoppte.

      Noch immer war es Nacht, und hier, wo sie sich nun befanden, gab es auch keine Straßenlampen. »Endstation«, knurrte der Mann, stieg aus und öffnete die linke Tür des Fonds. Marion streifte sich die Wollmütze vom Kopf und warf die Decke beiseite. Ihre Beine waren eingeschlafen, und sie tat sich mit dem Aussteigen schwer. Weil sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die nachtschwarzen Umrisse von Sträuchern und Weidezäunen erkennen. Sie befanden sich eindeutig weit außerhalb einer Ortschaft. Am Horizont war nur schwaches Streulicht einer möglicherweise nahen Stadt auszumachen.

      Der Mann packte sie am Oberarm und zerrte sie ein paar Schritte vom Auto weg in Richtung auf ein kleines Gebäude, das sich vor dem nahen finsteren Waldrand abzeichnete, der den ansteigenden Wiesenhang begrenzte. Im Dunkeln war eine heraneilende menschliche Gestalt zu sehen – ein Mann, wie sich sofort herausstellte. Der nahm sie unsanft in Empfang und zog sie an den gefesselten Armen wortlos über den Steilhang zu der kleinen Behausung hinauf, vermutlich einer Hütte. Sein Komplize stieg wieder in das Auto, und die Rücklichter verschwanden in der Nacht.

      Marion schwieg und ließ sich im Schein einer schwachen Taschenlampe widerstandslos in das kalte und dunkle Versteck bringen, das nach altem Heu, Moder und Spiritus roch. Dort loderte die Flamme einer altertümlich anmutenden Sturmlaterne, sodass sie jetzt auch den Kopf des Mannes sehen konnte. Allein dieser Anblick war furchterregend. Denn der Mann, der kein Wort sprach, hatte sich einen Damenstrumpf übers Gesicht gezogen. Wie in einem Horrorfilm. Doch dies hier war bittere Realität.

      Der Raum erinnerte im flackernden Licht der Flamme an ein verlassenes Wochenendhäuschen: Tisch und Stühle wie aus dem Sperrmüll, abseits davon eine längliche Sitzbank mit Polster. Der Maskierte zerrte Marion auf diese Bank, auf der sie sich zusammenkauerte, während ihre Fußgelenke mit einem Paketklebeband gefesselt wurden. So lehnte sie, erschöpft und sich ihrer hilflosen Lage vollends bewusst, in der Ecke.

      »Wie lang soll das gehen?«, fragte sie leise, doch ihr Bewacher schwieg und legte ihr ein Handtuch über den Kopf. Sie sollte bei aufkommender Helligkeit nicht sehen, was um sie herum geschah. Das Tuch gab trotzdem einen kleinen Sichtspalt frei, sodass sie beobachten konnte, wie der Maskierte nervös auf und ab ging und oftmals durch ein Fenster nach draußen schaute.

      4

      Knapp eineinhalb Stunden, nachdem er weggefahren war, kam der falsche Polizist wieder in Seifritz’ Haus an. Es war inzwischen 5.30 Uhr und noch immer dunkel. »Läuft alles wie am Schnürchen«, beschied er seinem Komplizen mit leicht schwäbischem Akzent. »Jetzt kommt’s nur darauf an, ob die Millionen fließen.«

      Seifritz verlangte Auskunft darüber, wohin Marion gebracht worden war.

      »Keine Sorge. Sie ist an einem sicheren Ort. Ihr wird nichts geschehen«, bekam er zur Antwort. »Sie müssen nur tun, was wir wollen.«

      Zum wiederholten Mal unternahm der erschöpfte und übermüdete Bankchef den Versuch, den Gangstern klarzumachen, dass der geforderte Betrag von fünf Millionen D-Mark kaum zu beschaffen sein würde. Im Tresor des Geldinstituts lagere deutlich weniger. Auch wäre es auffällig, wenn frühmorgens bei der Landeszentralbank, von der es eine Filiale in Göppingen gab, ein solcher Millionenbetrag geordert werde.

      »Das ist Ihr Problem«, warf ihm der zivil Gekleidete vor. »Sind Sie nun Bankdirektor oder nicht?«

      Schon in der Nacht hatte Seifritz darüber nachgegrübelt, ob er überhaupt befugt wäre, Geld der Bank als privates Lösegeld für seine Tochter zu verwenden. Aber wenn nicht … daran wollte er gar nicht denken. Er konnte in dieser Situation ja unmöglich mitten in der Nacht den Landrat als den allerobersten Chef der Kreissparkasse um Rat bitten. Wie es überhaupt schwierig sein würde, den Überfall geheimzuhalten, wenn er mit den beiden Gangstern noch vor Geschäftsbeginn im Hause auftauchen würde. Außerdem kam er allein ohnehin nicht an Geld. Er brauchte dazu den Hauptkassierer, und die Übergabe müsste im Tresorraum im streng abgeriegelten dritten Untergeschoss vonstattengehen. Dort lieferten die Geldtransporte nach einer Sicherheitsschleuse die Geldtaschen ab.

      Wieder die quälende Angst: Wenn im Lauf der nächsten Stunden jemandem in der Bank etwas verdächtig erschien oder jemand Alarm schlug, dann würde er seine Tochter nie mehr wiedersehen. Er spürte von Minute zu Minute, wie ihn die Ungewissheit und die Sorge um das Mädchen zermürbte. Er musste das Geld besorgen. Aber durfte er das wirklich? Konnte er eigenmächtig den Geiselnehmern Millionen aushändigen, die ihm gar nicht gehörten? Es fiel ihm zunehmend schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er fühlte sich müde,

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