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Fron gezeichnet war, steigt im Alter von 80 Jahren im kalifornischen Disneyland zum ersten Mal in eine Achterbahn – und muss, zitternd vor Freude, derart lachen, dass ihre dritten Zähne beinahe in weitem Bogen davonfliegen.

      Als 1938 die deutsche Wehrmacht in Wien einfällt, schiebt der junge Soldat Alfred Nagl Wache vor dem Bundeskanzleramt. Mehr als 20 Jahre später wird er Leopold Figl aus nächster Nähe auf dem Balkon des Wiener Belvedere verkünden hören: »Österreich ist frei!«

      Weltweit gesehen sollen auf Sardinien, der japanischen Insel Okinawa und in Kalifornien die meisten Hundertjährigen leben. Lange Zeit galt Dominica, eine vom Atlantik umspülte Karibikinsel vor der Küste Venezuelas, als Altenparadies: In Dominica zählte man, prozentual zur Bevölkerungszahl, noch 2012 die meisten Hundertjährigen. Ma Pampo war mit sagenhaften 128 Jahren die angeblich älteste Frau der Welt. Bei einem Feuer, so die Legende, soll ihre Geburtsurkunde zerstört worden sein.

      Nach allgemeingültiger Lesart ist das bloße Erreichen des Greisendaseins eine Leistung an sich. Die Meldungen in Medien und Internet über die »Altersrekordler« überschlagen sich: »Sie war ein Jahrgang mit Ernest Hemingway und Alfred Hitchcock – und sie aß bis zuletzt jeden Tag zwei Eier. Nun ist Emma Morano gestorben. Sie war der letzte noch lebende Mensch, der im 19. Jahrhundert geboren wurde«, notierte das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel Mitte April 2017. »Bisher galt die Französin Jeanne Calment als älteste je lebende Person der Welt«, protokollierte die Illustrierte stern Ende 2016: »1875 geboren, hatte sie bis zu ihrem Tod 1997 ganze 122 Geburtstage gefeiert. Jetzt wurde von indonesischen Medien auf der Insel Java ein Mann aufgetrieben, der laut Behördenangaben noch einmal fünf Jahre vor Calment geboren wurde – und 19 Jahre nach ihrem Tod immer noch lebt.«

      Der israelische Historiker Yuval Noah Harari schreibt in seinem Buch Homo Deus: »Im 21. Jahrhundert werden die Menschen wahrscheinlich einen ernsthaften Wurf in Richtung Unsterblichkeit machen.« An der Überwindung des Todes werde zwar geforscht, 115 Jahre scheinen gegenwärtig jedoch ein Limit zu sein, meldete die Tageszeitung Der Standard. Das Online-Lexikon Wikipedia hält fest, dass die Japanerin Miyako Chiyo »seit dem 21. April 2018 der älteste lebende Mensch« sei: »Laut einem Interview, das sie im Oktober 2015 mit 114 Jahren einem japanischen Anti-Aging-Magazin gab, sei ihr Geheimnis für Langlebigkeit, Aal zu essen, Wein zu trinken und nie zu rauchen.« Die größte Rolle für ein langes Leben spielen also schlangenähnliche Tiere, dosierter Alkoholkonsum und Nikotinabstinenz? Von Methusalem, dem ältesten Menschen der Bibel, der im Alter von beispiellosen 969 Jahren starb, sind dazu keine Hinweise überliefert.

      Die Hundertjährigen, die hier zu Wort kommen, haben keine Ratschläge für das Erreichen vieler Lebensjahrzehnte parat, weil sie wissen, dass es kein allgemein gültiges Rezept dafür gibt, weder für ein geglücktes, noch für ein langes Leben.

      Was kann man von Hundertjährigen dann lernen? Vielleicht dies: Wer das Leben mit offenen Armen empfängt, hat mehr davon. Freundschaft, Freiheit, Liebe und Lebensmut sind wichtig. Ein Schlüssel zum Glück liegt in der Balance zwischen Arbeit und Entspannung, Familie und Freunden, Alleinsein, Träumen, Lesen und Nachdenken. Wer noch Jahrzehnte später mit Ungerechtigkeiten und verpassten Chancen hadert, hat es schwer, sich von der Vergangenheit zu lösen.

      Ein Leben mit 100 Jahren: Wie fühlt sich das an? Wie sieht ein normaler Tagesablauf aus? Spielt der Tod eine Rolle im täglichen Leben?

      Als Gesprächspartner der Zentenare ist man darauf angewiesen, ihre Erinnerungen für bare Münze zu nehmen. Ein Mensch von 100 Jahren ist meist ein fragiles, durchscheinendes Wesen, nicht selten schwer zu Fuß, oft auf die Hilfe anderer angewiesen. Das Sehen lässt nach, das Hören fällt schwer, die Mobilität kommt langsam an ein Ende. Ihr Erinnern und Erzählen braucht Zeit und erfordert geduldiges Zuhören. Mit 100 Jahren purzeln einem Jahreszahlen, Orte und Namen manchmal durcheinander. Im Zweifelsfall für die Zentenare: Fakten und Tatsachen, die aufgrund ihrer langen Vergangenheit nicht überprüfbar waren, bleiben ausgespart, ebenso jene Zusammenhänge, bei denen offensichtlich Erinnerungslücken mit Erfundenem ausgetauscht wurden. Den ganz persönlichen Lebenserinnerungen der Hundertjährigen darf man andererseits gern und ohne Vorbehalt folgen. Über die Zeit des Nationalsozialismus reden, wie viele der noch lebenden Zeitzeugen, auch Hundertjährige nicht gern.

      Der Ausgangspunkt für Ein Jahrhundert Leben war ein Artikel im Wiener Nachrichtenmagazin profil, aus dem hier zehn Gespräche vom Sommer 2017 erneut publiziert werden. Die Hundertjährigen sind Zeugen. Man sollte nicht verabsäumen, sie gründlich auszufragen. Ihr Witz und Wissen, ihre Geschichte und Geschichten dürfen nicht verloren gehen.

      Das heimliche Motto dieser Lebenserzählungen könnte von dem 2017 verstorbenen russischen Poeten Jewgeni Jewtuschenko stammen: »Uninteressante Menschen gibt es nicht«, überschrieb der Schriftsteller eines seiner Gedichte:

      Jeder hat seine Geschichte, sein Gesicht,

      das nur ihm gehört. Ein jeder ein Planet:

      So reich, und keiner, der ihm gleicht. (…)

      Am Lebensende stürben nicht Menschen: Welten hörten auf.

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      Hilda Gamper

      *1914, Lustenau, Vorarlberg

       Meine Schwester Ella schickte mir aus Amerika oft die modernsten Dinge nach Lustenau. Einmal bekam ich von ihr falsche Wimpern. Ich klebte sie mir im Fasching verkehrt herum an. Alle lachten!

      Auf den Fotos an der Wand sind meine Toten. Meine Mama und mein Papa. Da ist Hans, mein Bruder, der im Krieg fiel. Meine Schwester Ella. Sie flüchtete bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Kalifornien. Eine ganze Woche war sie auf einem Ozeandampfer unterwegs. Eineinhalb Tage bewegte sie sich wetterbedingt mehr nach hinten als nach vorn. Ella sagte später, sie hätte am liebsten auf offener See sterben wollen, so miserabel wäre es ihr gegangen. Sechs lange Jahre erhielten wir keine Post von ihr. Sechs Jahre lang wussten wir nicht, ob sie noch am Leben ist. Meine Schwestern Anna und Emmi wohnten gemeinsam in Innsbruck. Auch Anna und Emmi – tot. Ich bin die Letzte.

      Früher war es nicht einfach mit fünf Kindern. Immer war wenig zum Essen da. Hunger zu leiden ist eine Qual, die nicht enden will. Nie werde ich vergessen, wie der Vater zur Mutter sagte, als sie ihn aufforderte, nochmals Suppe zu schöpfen: »Zuerst die Kinder!«

      Geboren wurde ich in Schaan, einer kleinen Gemeinde in Liechtenstein, weil unser Vater Grenzbeamter war. Wir zogen nach Lustenau, wo ich seit einer gefühlten Ewigkeit lebe. 75 Jahre wohne ich in derselben Straße. Ich wollte nie woanders sein, hier ist meine Welt. Unsere Kindheit war im Großen und Ganzen schön, unbekümmert. Einen Kindergarten kannten wir nicht. Von unseren vielen Tanten und Onkeln wurden wir miterzogen.

      An den 1914er-Krieg kann ich mich nicht erinnern. Im zweiten großen Krieg war ich drei Jahre lang Hausmädchen bei einem Arzt in Dornbirn. Der Doktor war ein Nazi und kinderlos. Ich musste seine Hunde mit einem Silberlöffel füttern. Einer war ein ganz besonders böses Tier. Er schnappte nach mir. Die Hunde wurden satt, die Menschen hungerten. Der Doktor las jeden Tag seine Zeitung, er ging gern wandern oder spielte Karten. Ein Hobby braucht der Mensch. Kurz vor Kriegsende trieb man ihn aus der Stadt, weil er, so nennt man das in Lustenau, »ein Hitler« war, ein Nationalsozialist.

      Noch während des Kriegs prüfte ich in einer Fabrik Gasmasken auf ihre Dichtheit. In einem Kartonagenwerk mussten wir nach 1945 kleine Geschenke für die französischen Soldaten basteln, Berge von Papierbeutelchen an Weihnachten. Ein Soldat schnitt uns die Haare. Wie Schafe sahen wir danach aus.

      Ich begann in einer Stickerei zu arbeiten. Ich wurde rasch zur Chefin vom Musterzimmer befördert und war verantwortlich für die Musterbücher, die wir an unsere Kunden verschickten. Darin waren durchnummerierte Stoffbeispiele eingeklebt, die wir mit unseren Stickmaschinen anfertigen konnten. Manchmal gab ich den Mustern Fantasienamen. Ich arbeitete in dieser Stickerei bis zu meiner Pension.

      Meine

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