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Das Jahr 2000. Edward Bellamy
Читать онлайн.Название Das Jahr 2000
Год выпуска 0
isbn 9783969876534
Автор произведения Edward Bellamy
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Aber wie konnte ich leben, ohne der Welt zu dienen? wird der Leser fragen. Wie konnte die Welt jemand Unterhalt gewähren, der nicht arbeitete und doch arbeiten konnte? Die Antwort auf diese Frage ist, dass mein Urgroßvater ein Vermögen gesammelt hatte, von dem seine Nachkommen lebten. Man wird vermuten, dass das Vermögen sehr groß gewesen sei, da es durch das Leben dreier Generationen in Untätigkeit nicht aufgezehrt wurde. Das war jedoch nicht der Fall. Das Vermögen war ursprünglich keineswegs groß. In der Tat war es jetzt, nachdem drei Generationen untätig davon gelebt hatten, viel größer als anfänglich. Dieses Geheimnis von Benutzung ohne Verbrauch, von Wärme ohne Verbrennung scheint wie ein Zauber, war aber einfach die geistvolle Anwendung der, glücklicherweise jetzt verloren gegangenen, von unseren Vorfahren aber zu großer Vollkommenheit gebrachten Kunst, die Last für jemandes Unterhalt auf die Schultern anderer zu werfen. Der Mann, der das fertig brachte, und alle trachteten danach es soweit zu bringen, lebte dann, wie man sagte, von dem Abwurf seines Vermögens. Es würde uns zu weit führen, hier zu erklären, wie die alten Methoden der Industrie dies ermöglichten. Ich will nur soviel sagen, dass die Interessen von Kapitalanlagen eine Art Steuer waren, welche ein Mann, der Geld erworben oder geerbt hatte, von dem Erwerb derer erhob, welche sich mit Industrie beschäftigten. Man darf nicht glauben, dass ein nach modernen Begriffen so unnatürliches und widersinniges Verhältnis von unseren Vorfahren niemals getadelt worden wäre. Gesetzgeber und Philanthropen bemühten sich von den frühesten Zeiten an, die Zinsen abzuschaffen, oder doch auf möglichst geringes Maß zu beschränken. All diese Bemühungen sind jedoch misslungen und mussten notwendigerweise misslingen, solange die alte soziale Organisation herrschte. Zu der Zeit, von welcher ich schreibe, also vom Ende des 19. Jahrhunderts, hatten im allgemeinen die Regierungen den Versuch, die Sache zu regulieren, vollständig aufgegeben.
Um dem Leser einen allgemeinen Begriff davon zu geben, wie die Menschen damals zusammen lebten, namentlich wie das Verhältnis der Reichen und Armen zueinander war, kann ich keinen besseren Vergleich der damaligen Gesellschaft finden, als mit einem riesigen Omnibus, an welchen die große Masse des Volkes gespannt war, um ihn mühsam auf einer bergigen und sandigen Straße hinzuziehen. Der Kutscher war der Hunger, der keinen Aufenthalt duldete, obgleich es natürlich in einem sehr langsamen Schritt ging. Trotz der Schwierigkeit, den Omnibus auf dem unebenen Wege im Gange zu halten, war das Dach desselben mit Passagieren besetzt, die auch bei dem steilsten Anstieg nicht abstiegen. Diese oberen Plätze waren schön luftig und bequem. Sie waren außerhalb des Bereichs des Staubes und man konnte von dort nach Belieben die Aussicht genießen, oder die Güte des sich anstrengenden Gespanns besprechen. Natürlich waren diese Plätze sehr gesucht und jedermann betrachtete es für das höchste Lebensziel, für sich einen Platz oben auf dem Wagen zu sichern und denselben nachher seinem Kinde abzutreten. Es bestand eine Fahrbestimmung, dass man seinen Platz an eine beliebige Person abtreten konnte, aber auf der anderen Seite ereigneten sich auch viele Unglücksfälle, durch welche man seinen Platz verlieren konnte. Denn die Sitze waren zwar sehr bequem, aber auch sehr unsicher und bei jedem plötzlichen Ruck des Wagens fielen Passagiere von ihren Sitzen auf den Boden, wo sie dann sofort das Seil anfassen und helfen mussten, den Omnibus, auf dem sie eben so schön gefahren waren, zu ziehen. Es wurde natürlich als ein großes Unglück angesehen, seinen Platz zu verlieren und die Besorgnis, dass einem selbst, oder einem seiner Freunde dies begegnen möchte, hing beständig wie eine Wolke über dem Glücksgefühle der Passagiere.
Aber haben sie nur an sich selbst gedacht? wird man fragen. Ist ihnen ihr Glück nicht verleidet worden durch den Vergleich desselben mit dem Lose ihrer vorgespannten Brüder und Schwestern und durch das Bewusstsein, dass deren Mühe durch ihre Last erschwert wird! Hatten sie kein Mitleid mit ihren Mitmenschen, von denen sie sich nur durch ihr Glück unterschieden? O ja, diejenigen, welche fuhren, sprachen oft ihr Mitleid für diejenigen aus, welche den Wagen ziehen mussten, namentlich wenn der Omnibus, wie so oft geschah, an eine schlechte Stelle auf dem Wege, oder an einen besonders hohen Berg kam. Dann boten die verzweifelte Anstrengung des Gespanns, sein schmerzvolles Bäumen und Springen unter den erbarmungslosen Peitschenhieben des Hungers, die vielen, welche am Seil zusammenbrachen und in den Kot getreten wurden, einen erbarmenswürdigen Anblick, der oft anerkennenswerte Gefühlsausbrüche auf dem Dache des Omnibus hervorrief. Dann riefen wohl die Passagiere den Arbeitern am Seil ermutigend von oben zu, ermahnten sie zur Geduld, und stellten ihnen Hoffnung auf einen möglichen Ausgleich mit ihrem harten Los in einer besseren Welt in Aussicht, kauften auch wohl Salben und Balsam für die Beschädigten und Verstümmelten. Man stimmte darin überein, es sei schade, dass der Wagen so schwer zu ziehen sei und fühlte sich allgemein erleichtert, sooft man besonders schlechte Stellen des Weges hinter sich hatte. Diese Erleichterung fühlte man natürlich nicht einzig für das Gespann, denn an solchen schlechten Stellen lag stets die Gefahr nahe, dass der ganze Omnibus umfallen und alle ihre Plätze verlieren möchten.
Zur Steuer der Wahrheit muss man bekennen, dass der Haupteindruck, den der Anblick des Elends der Arbeiter am Seile auf die Passagiere machte, der war, dass sie den Wert ihrer Plätze auf dem Wagen erst recht schätzen lernten, und sich um so verzweifelter festhielten.
Wenn die Passagiere sicher gewesen wären, dass weder sie noch ihre Freunde abgeworfen werden könnten, so würden sie sich wahrscheinlich verzweifelt wenig um diejenigen, welche den Wagen zogen, gekümmert haben, außer dass sie sich an den Sammlungen für Salben und Verbandzeug beteiligten.
Es ist mir wohl bewusst, dass dies den Männern und Frauen des 20. Jahrhunderts als unglaubliche Unmenschlichkeit erscheinen wird, aber zwei sehr merkwürdige Tatsachen erklären sie wenigstens teilweise. Erstens war man des festen, aufrichtigen Glaubens, dass es kein anderes Mittel gäbe, die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, als dass die Menge am Seil zog und die Bevorzugten im Wagen fuhren, und nicht dies allein, sondern dass auch keine radikale Besserung weder am Gespann, noch am Wagen, an dem Wege oder der Verteilung der Arbeit möglich war. Es sei immer so gewesen und würde immer so sein. Es war ein Jammer, aber man konnte nicht helfen und es war ein Gebot der Philosophie, an einem Übel, das man nicht heilen konnte, kein Mitleid zu verschwenden.
Die zweite Tatsache ist noch merkwürdiger und besteht in einer eigentümlichen Sinnestäuschung, welche von allen auf dem Wagen gemeiniglich geteilt wurde, dass sie nämlich mit ihren Brüdern und Schwestern, die am Seil zogen, nicht ganz gleich, sondern von besserem Ton gemacht seien, in gewisser Beziehung zu einer höheren Klasse von Wesen gehörten, die mit Recht erwarten dürften, gezogen zu werden. Dies scheint unglaublich, aber da ich selbst einmal auf diesem Omnibus gefahren bin und dieselbe Sinnestäuschung geteilt habe, sollte ich Glauben finden. Das sonderbarste bei dieser Täuschung ist, dass diejenigen, welche eben erst vom Boden auf den Wagen geklettert sind, noch ehe die Schwielen des Seils an ihren Händen verwachsen, ihrem Einflusse verfallen. Bei denen, deren Eltern und Großeltern schon so glücklich gewesen waren, Plätze oben auf dem Wagen eingenommen zu haben, war die Überzeugung von einem wesentlichen Unterschied zwischen ihrer Art und der gewöhnlichen Ware eine vollkommene. Eine solche Täuschung musste notwendig ein brüderliches Gefühl für die Leiden der großen Menge in ein philosophisches Mitleid verwandeln. Das ist das Einzige, womit ich meine Gleichgültigkeit gegen das Elend meiner Brüder zu der Zeit, von welcher ich schreibe, beschönigen könnte. - Im Jahre 1887 wurde ich dreißig Jahre alt. Ich war zwar noch unverheiratet, aber mit Edith Bartlett verlobt. Sie fuhr wie ich oben auf dem Wagen. Das heißt - um nicht länger in einem Bilde zu sprechen, welches hoffentlich seinen Zweck erreicht, und dem Leser einen Begriff von unserem damaligen Leben gegeben hat -ihre Familie war reich. In jener Zeit, wo alle Annehmlichkeiten und aller Luxus nur für Geld zu haben waren, genügte es für ein Mädchen reich zu sein, um Anbeter zu haben, aber Edith Bartlett war auch schön und anmutig. Meine Leserinnen werden dem widersprechen. »Schön mag sie gewesen sein«,