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hier widerfahren? Worum handelt es sich bei dem Gewächs namens rethem? Ist es der Kalistrauch, die Tatarendistel, welche die Ärmsten gierig verspeisen? In Palästina ist sie überall, diese Distel. Wächst sie in Arabien auch? Im glücklichen Arabien? Im wüsten Arabien? In allen Arabiae auf Gottes schöner Erde? Bald können wir Niebuhr fragen, wie ihm die Wurzel bekommen ist. Doch was, beim Teufel, ist rethem genau? Der Prophet Elia schläft darunter, als der Engel ihn anrührt, und Hiobs Familie frisst es von unten ab. Was ist hebräisch rethem, arabisch ratam? Das ist das nämliche Wort! Wenn ich ›Pfriemenkraut‹ übersetze, ist dies nichts als ein Notbehelf. Wie sieht sie aus, wie riecht sie, wie schmeckt sie, die Pflanze rethem gleich ratam? Wie Luthers Wacholder gewiss nicht. Das ist ein Kraut, das vermaledeite rethem, dem es auf der Wartburg zu kalt ist! Denken Sie mit, meine Herren! Betrachten Sie nichts als erwiesen, nur weil Doktor Luther es schrieb! Und was haben sich hier nicht die Exegeten zerquält. Die Sache haben sie mildern, Hiobs Leuten das Wurzelfressen ersparen wollen, und so lasen sie gegen alle Vernunft, dass man den Strauch nur verbrennt und nicht isst. Doch man verbrennt keine Sträucher, wo diese Geschichte spielt. Dort brennt man Mist! Getrocknete Fladen! Kamelschiss! Das ist Allgemeingut! Solches zu eruieren, bedarf’s des Niebuhrs nicht!«

      Über all dem rethem und ratam hatte Professor Michaelis den Studenten aus dem Bremischen fast vergessen gehabt. Jetzt suchte er ihn mit den Blicken. Doch Carsten Niebuhr war unbemerkt durch die Tür geglitten und längst aus dem Haus.

      Die Nacht war sternenklar. Niebuhr ging zur langen Jüdengasse hinunter, rechterhand an St. Jacobi vorbei und die Weendergasse nach Süden. Weil er Tag und Nacht die Kartographie übte, sah er stets eine Windrose über allem schweben, als seien Welt und Weltplan das Gleiche. Von Südsüdwest kam ein Schwein gelaufen. Seit die Franzosen in der Stadt lagen, war es nachts so hell, dass alles in Unordnung geriet.

      Niebuhr mochte Göttingen recht gern. Es mochte es lieber als Bremen und viel lieber als Hamburg. Es mischten sich in Göttingen auf angenehme Weise das Bäurische und die Vernunft. Manchmal, selten, da er kaum Zeit fand, sich zu vergnügen, spazierte Niebuhr im Grünen umher, etwa beim Wall vor dem Groner Tor, und grübelte über die Wissenschaft. Wie die Universität sie hervorbrachte. Wie die Stadt sie aufsog. Vielleicht weckten nicht die Franzosen nachts die Tiere auf, dachte er übermüdet, sondern die ständigen Kollegia der Universität. Er schaute dem Schwein hinterher, das sich zum Jacobikirchhof trollte, und holte tief Luft in der kühlen Nacht, eine Erleichterung nach dem stickigen Hörsaal.

      Nun war Michaelis wieder einmal überstanden. Was er nicht alles wusste. Carsten Niebuhr, der ein Talent dafür hatte, seinen Geist nur auf das zu konzentrieren, was für seine eigene Pflicht von Bedeutung war, sortierte rethem und ratam aus. Er war der Mathematikus der anstehenden Expedition. Rethem gleich ratam ging ihn nichts an. Die Pflanzen gingen den Physikus an, Herrn Forsskål aus Schweden. Sollte der sich die Pflanzen merken. Und der Philologus von Haven die Wörter dazu. Die Zeit drängte. In einem Jahr wäre man wohl schon auf See. »Geht hin und forscht und bringt mir Geschenke mit, ihr drei Weisen aus dem Abendland«, hatte Michaelis gesagt, in einem fast lieblichen Ton. Da hatte der Wein ausnahmsweise sein Gift verdünnt. Dafür bedurfte es einer beträchtlichen Menge.

      »Atakallamu, tatakallamu, tatakallamina, tatakallamani, yatakallamu, tatakallamu«, murmelte Niebuhr vor sich hin. Das rollte nicht leicht von seiner Zunge. Doch er würde es lernen. Hier irrte Professor Michaelis. Carsten Niebuhr konnte durchaus Arabisch lernen, wenn er nur eine ordentliche Methode fand. Michaelis würde noch stolz auf ihn sein. Er überquerte den Kornmarkt. Dabei war er so sehr mit dem Arabischen beschäftigt, dass er den Fischabfall nicht sah, der sich um den Fischstein verbreitete, und fast darin ausgerutscht wäre. Wohl hatte man gestern Fischmarkt auf dem Kornmarkt gehalten.

      In der Stinkenden Gasse beschleunigte er seinen Schritt. Sie stank nicht viel mehr als der Kornmarkt, doch wahrscheinlich stank sie moralisch. Franzosen, Studenten, schlechte Frauenzimmer, magere Hühner und ein äpfelnder Esel waren hier schlaflos zugange. Jemand hatte mitten auf der Straße ein Feuer angezündet und alles lärmte und schrie. »Yatakallamuna, yatakallamna«, sagte Niebuhr gewissenhaft her. Das hieß ›sie sprechen, sie sprechen‹. Der Araber unterschied genau, ob es nun Männer oder Frauen waren, die sprachen. Bei Männern hing ein -muna hinten am Verb und bei Weibern ein -mna. Auch ob zwei oder mehr Leute sprachen, konnte man der Grammatik entnehmen. Das hieß dann, je nachdem, Dualis oder Pluralis. Im Grunde kam die arabische Sprache dem mathematischen Denken entgegen. Der Araber war sehr exakt. Seine Frauen sprachen per -mna, doch ansprechen durfte sie keiner. Damit war in Arabien nicht zu spaßen. »Das muss man aber dem Niebuhr nicht einbläuen, unser Niebuhr spricht auch auf der bremischen Heide kein Weibsbild an«, hatte Michaelis, nicht nur einmal, gesagt. Damit hatte er recht. Carsten Niebuhr hatte eine gewisse Scheu vor Frauen und Mädchen. Sie anzusprechen, dachte er, könnte den Eindruck erwecken, man hätte genügend Geld, sie zu heiraten. Woher Professor Michaelis das allerdings wusste, war ihm ein Rätsel. Professor Michaelis wusste die erstaunlichsten Dinge.

      Sprach man die Frauen oder Töchter eines Mohammedaners an, wurde man umgebracht. Sagte man ein Vaterunser, wurde man ebenfalls umgebracht. Ging man zu nahe an Mekka heran, wurde man umgebracht. Selbst wenn man im Stehen und nicht auf den Knien sein Wasser abschlug und sich dabei erwischen ließ, wurde man schleunigst umgebracht. Solches hörte Niebuhr ständig. ›Umbringen‹ war das Wort, das am öftesten fiel, wenn das Gespräch auf Mohammedanisches kam. Professor Michaelis sorgte sich allerdings wenig. »Pah, die bringen den Niebuhr nicht um«, hatte Michaelis gesagt, »die machen ihn lieber zum Mundschenk, mit seinen nordseeblauen Augen.« Darauf hatte er so lange schmutzig gelacht, bis auch der Letzte begriffen hatte, was Mohammedaner unter einem Mundschenk verstanden. Niebuhr ließ sich durch solche Reden nicht aus der Ruhe bringen. Man sollte schließlich keine Freundschaften im Morgenland schließen. Man sollte sich nicht ins arabische Leben verflechten. Man sollte nur observieren und messen und rechnen, die Koordinaten der heiligen Schrift abstecken und zusehen, dass man nicht etwa den Durchfall bekam. Der arabische Durchfall, so Michaelis, sei tödlicher als jeder Muselman. Du aber wirst haben viel Krankheit, bis dass dein Eingeweide herausgehe. 2. Chronik 21. Das sei der biblische Durchfall gewesen und sei der arabische Durchfall bis heute. Ein Arzt würde mitreisen und das eruieren und auch darauf achten, dass keinem der Forscher die Eingeweide herausgingen, nicht dem Physikus, nicht dem Philologus und auch nicht dem Mathematikus. Niebuhr stieg mit Umsicht über einen hinweg, der zusammengerollt im Schmutz schlief. Er sah seiner Reise mit Zuversicht und Spannung entgegen.

      Vollends begriffen hatte er immer noch nicht, wozu die Gottesgelehrsamkeit die Mathesis brauchte. Das moderne Christentum nach Göttingischer Weise, so schien es, bediente sich eines Hadley-Oktanten und eines Newtonschen Tubus, um den Glauben in Ordnung zu bringen. Michaelis konnte dies gewiss erklären, doch für die großen Kollegia in seinem Haus waren solche Grundsatzfragen viel zu schlicht. Immer hoffte Niebuhr darauf, dass Michaelis den theologischen Urgrund der arabischen Reise und den Nutzen aller losgeschickten Personen bespräche, doch immer wurde er enttäuscht, immer gab es nur böse Worte, Heuschrecken, Pfriemenkraut und den Koran. Niebuhr hatte Gott um Rat und Lenkung gebeten, weil Michaelis weder riet noch lenkte, doch Rat und Lenkung blieb überall aus. Mehr als ein wenig von dem, was Michaelis die Kinderfrömmigkeit schimpfte, fand Niebuhr in seinem Herzen nicht. So warf er sich denn auf Mathesis, Sternkunde und Kartographie. Gott Vater würde seine Hand über ihn halten. Und Michaelis wäre begeistert. Eines Tages, wenn sie sicher heimgekehrt wären, würde Professor Michaelis vollends begeistert sein, was sie im Morgenland alles gefunden hätten. Diesem Tag sah Niebuhr freudig entgegen.

      Nun konnte er das Observatorium sehen. Man hatte es erst vor wenigen Jahren auf einen der südlichen Stadttürme gebaut, wie ein eigenes kleines Haus oder Kirchlein auf einem runden Podest, hoch oben über der Stadt. Fast jeden Tag ging das Gerücht, die Franzosen hätten es geschlossen, beschlagnahmt, gar ein Pulvermagazin dort hineinverlegt, doch das glaubte Niebuhr nicht. Schon zu oft war es erzählt worden, und jedes Mal saß Professor Mayer dann dort oben ganz unbehelligt und ging seiner Arbeit nach.

      Auch den Krieg hatte Niebuhr aussortiert, genau wie rethem und ratam. Im glücklichen Arabien würde der Krieg nicht sein. Vielleicht in Ostindien. Dort war der Krieg ebenfalls hingedrungen, wie in der

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