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kleinen Tisch gesessen, den man ihm extra hingestellt, und auf das Schindeldach hinausgesehen? Den Blick wieder auf das kleine gerollte Heft gesenkt, in dem bisher nichts anderes als unpoetischste Pflanzenbeschreibungen und Notizen zu stehen gekommen waren? Nein, aber nein … Er war liegen geblieben. Alles war dunkel. Keine Kerze brannte. Nichts hatte Volpi erleuchtet. Kein Geistfunke war ihm gekommen, nicht der verendende Glühwurm einer halben oder viertel Idee … und wenn hier etwas rauschte außer dem Blut in seinen Schläfen, so war es das Wasser des rauschenden Baches, der draußen vorbeizog und Abzucht genannt wurde – ein Name, der noch dunkel an das römische aquaeduct erinnerte. Sie entsprang den Gruben des erzreichen Rammelsberges, der für die fortgesetzten Händel mit dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel verantwortlich war. Vitriole und andere Gifte hatten sich in den Sickerwässern gelöst, die aus den Entwässerungsstollen zu Tage rannen. Auf Wasserbrettern den Mühlen zugeführt, war aus der Abzucht kein Trinkwasser zu schöpfen. Sie floss daher in einer strengen Einfassung. Das gute Wasser eines Rinnsales daneben – der Gose, nach der die Stadt hieß – wurde durch die saubere Trennung nicht verunreinigt.

      Seltsam, dachte Volpi, während er dem Rauschen und dem Knarren des großen Mühlrades zuhörte … Vielleicht hatte sich sein Glück ja doch gewendet? Wenn es so wäre? Er musste an Fortunas Rad denken und lächelte schwach, für alle Welt unsichtbar und auch nur kurz: Fortunas Mühlrad! Angetrieben von den giftigen Wässern, die dem Berg entströmten, auf dem Goslars Glück gebaut war, insonderheit das Glück des Herrn, der ihn so gastfreundlich aufgenommen … Daniel Jobst, ein großer Mann, ein Wandschneider wie aus dem Bilderbuch der Gewerke! Der Erfolg seiner Handlung hatte sich aufs Körperformat geschlagen. Er war nicht mehr der drahtige 33er, der er vor 25 Jahren wahrscheinlich gewesen war, dachte Doktor Volpi, in den Belangen des Körpers wohlbeschlagen … Für sein fortgeschrittenes Alter dagegen wirkte Jobst sehr gut beieinander und wurde sicher oft für jünger gehalten. Er hatte, das zeigte seine Hausburg, im zurückliegenden Vierteljahrhundert keine Chance ungenutzt verstreichen lassen, mit Metallen und edlen Tuchen, mit Gewürzen und Farben Gewinn zu machen. War der Reichtum des Oheims Unruh bereits beträchtlich gewesen, so war der des Neffen nun fast unheimlich … Jobst hatte inzwischen mehrere Nachbarhäuser gekauft und alle Außenmauern in Stein aufführen lassen, sodass aus der Kemenate der an sich schon stattlichen Halskrause das Zentrum einer kleinen Stadtfestung geworden war. Nichts fürchtete Jobst inzwischen so sehr wie Feuer und Diebe.

      Volpi drehte sich auf die andere Seite, er fühlte die knisternden Gänseflaumfedern im Kissenbezug aus französischer Seide … Wann hatte er zuletzt etwas anderes als Stroh unter der Wange gespürt? War es dieses betörende Gefühl von Luxus, das ihn keinen Schlaf finden ließ? Wie ein Strauchdieb sah er offenbar noch immer nicht aus, so schmutzig er auch am Tag noch gewesen war. Denn Unruhs Erbe, dieser feine, furchtsame Mann, hatte ihn bereitwillig aufgenommen. Bartholdi hatte es sich nicht nehmen lassen, vorbeizuschauen, als er die Aktenflut kanalisiert hatte. Jobst und Bartholdi hatten in der Bibliophilie eine gemeinsame Leidenschaft, und der Kleine war ein gern gesehener und bevorzugt behandelter Gast, wie es schien. Er brauchte nicht nach Hause zu laufen, sondern konnte ebenfalls bei Jobst übernachten. Als Volpi todmüde den Rückzug angetreten hatte, waren Hausherr und Archivar noch ganz bei ihrer Sache geblieben …

      Volpi drehte sich behaglich auf die andere Seite. Nein, billiger wäre es kaum gegangen. Besser hätte er es gar nicht treffen können. In diesem reichen Haus, im Gespräch mit diesem belesenen Gönner, würde das Gedicht für Monika Bacchiglione wie von selbst entstehen! Einschlafen konnte er aber nicht, trotz – oder gerade wegen – dieser schönen, gänzlich unverhofft aufgeschienenen Aussichten. Das ihm so generös angebotene unbekannte lateinische Gedicht vorzunehmen … daran war ohnehin kein Gedanke gewesen … wo der Brief an Tomaso noch wartete.

      Dann war Volpi doch eingeschlafen, denn er wachte schweißnass wieder auf, nach einem schrecklichen Nachtgesicht! Es schlug halb … Halb wie viel? Zu dumm. Wenn man erst einmal eingeschlafen war, dann hatte es sich mit dem Uhrenschlagenwissen … Halb zwei, halb drei? Wie auch immer … Volpi hatte im Traum auf einer großen Blumenwiese einem Drachen gegenübergestanden, so lang wie ein Heufuhrwerk, mit einem speckigen, hellen Schweinehinterleib. Vorn aber hatte er schwarze Borsten am Kopf wie ein Wildschwein. Die Flügel einer gewaltigen Fledermaus, auch deren Ohren und einen Schmetterlingsrüssel. Am Bauch gelb, weiß und scheckig, und Flügel und Oberteil schwarz; der halbe Schwanz wie ein Schneckenhaus krumblicht. Ganz kleine, fast nur punktgroße, tückische Fuchsaugen hatte das Unvieh auf ihn gerichtet, ihn regelrecht damit aufpieken wollen … Er – der heilige Volpi dagegen – hatte eine viel zu große Lanze in der Hand gehalten, einen wahren Maibaum von Lanze … Spielend leicht hätte er, mit gewaltigen Kräften begabt, den Drachen damit erstechen oder noch besser erschlagen können … Doch der hatte sich verwandelt. Nicht im Mindesten mehr feindselig war er, geschrumpft wie aufs „Mutabor!“ eines Hexenmeisters, und machte Anstalten, die große gelbe und weiße Hundskamille zu fressen: Aus der dicken Schlange mit Flügeln war eine ganz profane Milchkuh geworden! Seine Lanze hatte er zurückgelassen, da sie unnötig war … Sie schlug, einer gefällten Buche gleich, in die Wiesenblumen. So friedlich, so harmlos, so niedlich beinahe stand die Kuh vor ihm … Ihre stumpfen Kiefer mahlten, sie muhte … Er war wieder der kleine Hütejunge von einst, passte auf die Kühe des väterlichen Landgutes in den Euganeischen Hügeln bei Monterosso auf, wo die rote Erde durchs Gras brach … Volpi trat, erfreut über diese Entwicklung, an die friedlich Grasende heran, um ihr die Flanke zu streicheln. Da erst sah er das Feuer in den Kuhaugen und spürte die Hitze der Flammen, die aus ihrem geöffneten Maul hervorschossen und ihn einhüllten wie ein loderndes, weiß glühendes Leichentuch …

      Das war der Moment gewesen, in dem ihn sein aufgepeitschtes Gemüt hatte aufwachen lassen. Ein Alp! So gegenwärtig, dass Volpi glaubte, den höllischen Anhauch des Ungetüms noch riechen zu können. Der Schlaf wollte ihn schon wieder einfangen, und er sehnte sich auch danach, denn er wollte dieser beängstigenden Vermutung keinen Raum bieten, als er eine Glocke schlagen hörte. Bim-bim-bim-… Monoton. Aufgeregt. Stundenschläge waren das nicht … Dann waren Stimmen zu hören: Rufe, Schreie. Die kamen von der Straße. Ein Aufruhr? Einbruch der Herzoglichen? Auch das Unruh-Haus machte seinem Namen jetzt alle erdenkliche Ehre.

      Eine Magd hämmerte gegen die Tür und rief: »Ihr müsst aufstehen, Herr! Ihr müsst Euch ankleiden und mit hinausgehen! Bei der Schwalbe wüten die Teufelszungen! Hört Ihr! Wacht auf! Kommt mit raus!«

      Endlich begriff er, was los war: In der Nachbarschaft brannte es!

      Keinen Steinwurf entfernt quoll dichter Rauch aus einem Hausdach. Flammen blakten wie hinter dunkelgrauen Schleiern. In den Gröpern hieß die Straße. Sie verlief parallel zur Straße an der Abzucht, in gerader Linie hoch zum Markt. Das Haus gehörte einer Witwe namens Stobeken, die allseits nur als die Schwalbe bekannt war – auch ihr Haus trug diesen Namen. Im Falle des Hauses hatten die Schnitzereien an den Knaggen zur Benennung inspiriert, da waren Schwalbenschwänze zu sehen. Im Falle der Witwe war es der Lebenswandel, denn sie stand im Ruf, seit ihr Gatte im letzten Aufbegehren der Schmalkalder bei Mühlberg auf dem Feld geblieben war, mit leichten Schwingen von einem zum anderen Liebhaber zu fliegen …

      Auf der Straße war reichlich Volk versammelt, als Volpi hinzukam, doch er sah wenig Anstrengung, dem Feuer zu wehren. Zwei Männer schleppten eine halbvolle Bütte mit Wasser heran. Die große Menge der Schaulustigen aber war paralysiert vom Anblick der ins Schwarz hinaufzüngelnden Dachbefeuerung. Hörte man Wehklagen? Wie hatte die Magd sie genannt? Feuerzungen! Nein – Satanszungen. Oder?

      »Zurück!«, ging plötzlich der Ruf.

      Krachend kamen kleinere Dachschwellen herunter und lagen schwarz und rauchend am Boden, dann folgten teils verkohlte, teils brennende Holzschindeln. Ihr Herabprasseln trieb die untätig Herumstehenden zurück.

      »Toren! Was steht ihr da und haltet Maulaffen feil!«, schrie Daniel Jobst, als er ein paar Augenblicke später erschien. »Schafft mehr Wasser her! Wir sollten die Wände der Schwalbe einreißen! Das Feuer darf nicht übergreifen! Schützt die Nachbarhäuser, indem ihr die Dächer und Mauern gegen die Flammen verteidigt! Mit Wasser, mit Sand, mit Feuerpatschen! Wo ist Vera Stobeken? Sie wird nichts dawider einwenden können – kann ihr Haus ohnehin nicht mehr retten! Wo bleiben die Stangen mit den Haken –, die Feuerkruken? Rasch,

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