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      Die Jahre der Kümmernis, die sinnlos verstreichenden Jahre. Die Furcht vor dem Sterben bei lebendigem Leib … Dann die Erlösung, die Wiederbelebung. Das glühende Jahr der Blüte und des Frevels. Des schönen Frevels, der süßen Rache. Ein anderer stand ihr vor Augen, den traf jetzt die Wut. Den allein musste sie treffen … Er ist ein Narr geworden! Ein ganz anderer … Ich verstehe und kenne ihn nicht mehr, dachte Sibylle Herbst. Ich will ihn nicht mehr kennen! Wo waren Klugheit, Verstand, Ruhe, Gelassenheit, die sie neben all seiner Glut so an ihm geschätzt hatte? Der Spiegel antwortete ihr nur mit ihrem Bilde …

      Sie fand ihren Körper noch immer schön. Kastanienbraunes Haar, für gewöhnlich zum Knoten geschlungen und unter der Hörnerhaube versteckt, fiel bis auf das Schachbrett des Kachelbodens herab. Schneeweiß und makellos war die Haut. Warum war Ottos Liebe zerbrochen? Warum war ihre Liebe zerbrochen? Weil er ihre Zartheit mit Füßen getreten hatte, weil er ein zügelloser, fühlloser Klotz gewesen war … Am fehlenden Kind, dachte sie erst. Doch als es dann gekommen war vor über einem Jahr, in der letzten Märzwoche, da war es ihm bloß ein Achselzucken wert gewesen. Ob er gespürt hatte, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war?

      Sie sah Otto und die Schwalbe so deutlich nebeneinander vor sich, als sei sie dort gewesen, im brennenden Haus. Sie hatte nie wirklich begriffen, dass er dazu anstands- und umstandslos in der Lage war, die ganze Zeit über … so wie sie nie geglaubt hatte, dass es Frauen gab, die anderen Frauen das Liebste wegnahmen, obwohl sie es doch besser wusste … War sie denn besser gewesen? Wenigstens hatte sie keiner anderen den Schatz gestohlen. Aber selbst die Verweigerung konnte manchmal einen schmerzlichen Tod bei lebendigem Leib bedeuten. Aber konnte sie auch einen Narren aus einem Besonnenen machen? Was für eine Hölle auf Erden … Darin bestand ihrer aller Meisterschaft, dachte sie voller Sarkasmus, sich durch scheinbar so unschuldiges Tun unentwegt das Leben schwer zu machen, sich Dinge vorzumachen, sich Sachen einzubilden … Alle schienen Tag und Nacht nichts anderes zu tun … Was für eine Närrin war sie selbst doch gewesen … Ihre Gedanken drehten sich im Kreis: Die Früchte so vieler Jahre von Ottos harter Arbeit, der ihr so fremden Arbeit eines ihr zuletzt so fremd gewordenen Mannes – jetzt waren sie ihr in den Schoß gefallen, und es schien so, als sei es ihre Rechnung gewesen, die aufgegangen … Als ob es ihr darauf angekommen wäre, als ob sie es darauf abgesehen hätte, als ob sie … Sie sah Otto wieder vor sich, wie so oft in den vergangenen Tagen und in ihren schlimmen Träumen, sah, wie er seine Unterschrift unter das geänderte Testament setzte. So verhasst ihr der Anblick auch war, der sie heimsuchte, als sei es nur dieses, was sie von ihm behalten sollte, für immer – so verrückt, so irre und wahnsinnig es auch war –, wie alles, dachte sie, wie die ganze verfluchte Welt war, so unvorstellbar verworfen. Dennoch! Da, plötzlich, in diesem Moment, liebte sie Otto wieder, und dieses seltsame Gefühl bestand neben der aufrichtigen Freude darüber, dass er tot war … Der Tod konnte nicht verbessern, was gewesen war, doch durch sein Eingreifen war Otto an sein Wort erinnert worden. Der Tote erst hatte ihrem Sohn eine Zukunft geschenkt. Otto war der tote Beweis dafür, dass es irgendwo auf dieser gottverlassenen Welt noch so etwas wie die Liebe gab. Sie grinste irr sich selbst im Spiegel an … ja, war sie denn vollends verrückt geworden, solche Dinge zu denken? Sie weinte plötzlich, schluchzte, heulte Rotz und Wasser, kaum mehr wissend, wen sie mehr betrauerte: die drei – irregeleitet und närrisch geworden durch das alles verzehrende Liebesfeuer – oder sich selbst.

      Donnerstag, 19. Mai 1552

      Mit jedem Schritt feierten sie, noch am Leben zu sein. Die Glieder schmerzten bei jeder Bewegung, als sie neben Daniel Jobst zum ersten Mal wieder den Gang nach draußen wagten. Doch am liebsten hätten sie vor Freude gesungen – wie die Vögel, die jetzt lautstark aus jedem Winkel den Frühling priesen. Sie hatten einander viel erzählt, während des Tages als bettlägerige Zimmergenossen selbstredend lang und breit die nächtlichen Erlebnisse besprochen. Nun inspizierten sie gemeinsam mit Jobst die Brandstelle. Auch den letzten schwelenden Balken hatte man beseitigt, um keinen neuen Feuerherd entstehen zu lassen. Vom Lehm aus Wänden und Decken war noch ein kleiner Hügel übrig. Die Asche türmte sich, besonders abgelöscht und zu kleinen Kegeln zusammengefegt.

      »Wie hat die Betrogene es aufgenommen?«, erkundigte sich Volpi, während er mit seinem Stock in den Aschehaufen stocherte. Beide Seiten seines geschundenen Leibs brannten und stachen, sodass er bei jedem Schritt fürchten musste, in der Mitte durchzureißen. Aber er war bemüht, es mannhaft zu ertragen und dies gelang, indem er innerlich unablässig den Schwur tat, künftig nicht nur fremde Häuser, sondern auch die eigene Neugier einfach … brennen zu lassen …

      »Gut und schlecht«, antwortete Jobst sehr sibyllinisch. »Dass Otto, ihr Mann, sie betrog, traf Sibylle Herbst sehr übel! Das heißt, es kam sie wohl vor allem schlimm an, dass es nun auf so schmähliche Weise öffentlich ruchbar wurde und im Gedächtnis der Stadt eingebrannt ist … Daher schäumte sie vor Wut. Dass er tot ist – ertrug sie dagegen völlig gefasst. Sie will von der Geschichte zwischen ihrem Mann und der Schwalbe nichts gewusst haben. Dass er ihr untreu war, habe sie freilich vermutet … Sie wurde von einem Sohn entbunden, noch letztes Jahr. Nun scheint sie über ihre eigene Zukunft und die des Kindes beruhigt. Herbst muss ihr gedroht haben, sie zu verlassen, oder ihr und dem Kind etwas anzutun, um ganz frei zu sein. Sie hat es vor einigen Herren des Rates bekannt.«

      Wieso machte man so viel Wesens vom Unterschied zwischen Mensch und Tier? Menschen waren redende Bestien, darauf lief es hinaus, dachte Volpi.

      »Wie furchtbar – das alles nun vor aller Ohren enthüllen zu müssen … Ich schätze, sie ist überdies sehr hässlich …«

      »Wie kommst du denn darauf? Ich möchte sie zur reizendsten Witwe der Stadt erklären!«, sagte Bartholdi. »Wäre ich nicht so schüchtern … würde ich ihr die Tür einrennen!«

      »Vorsicht …«, sagte Jobst und blickte demonstrativ um sich. »Du siehst, was bei deinem letzten Tür-Einrennen rauskam!«

      »Was ist denn das hier?«, fragte Volpi unvermittelt, mit der Spitze seines Stockes ein kleines längliches Etwas von einem Aschekegel fort zur Seite schiebend. Er bückte sich ächzend, hob das Ding auf und hielt es prüfend ins Sonnenlicht.

      »Eine Pfeilspitze aus Eisen, will ich meinen! Nichts Besonderes.«

      »War die Wittib etwa in der Schützengilde?«

      »Nein, aber ihr Mann! Wie wir alle, versteht sich …«

      »Vera Stobekens Mann hieß Eitel Stobeken. Er fiel vor fünf Jahren …«, fügte Bartholdi hinzu, »… in der Schlacht bei Mühlberg, wo die Schmalkalder schmählich dem Kaiser unterlagen.«

      »Und der Gildeschütze hatte nur einen Pfeil im Haus?«, verwunderte sich Volpi. »Wenn ich mir die Eisentrümmer anschaue, die hier sonst so herumliegen, scheint sich bisher niemand für die Nachlese interessiert zu haben: Nägel, Schnallen, ein Schürhaken, ein paar Messerklingen, ein kleiner Eisenkamm. Warum liegen hier nicht die Spitzen von einem oder zwei Schock Pfeilen herum? So viel hat doch jeder Schütze, mindestens, oder nicht?«

      Volpi hatte schon vom liebsten Zeitvertreib Jobsts gehört. Seine Kenntnisse waren dagegen rein theoretisch – er hatte Roger Aschams Toxophilus gelesen. Was er über Pfeil und Bogen wusste, hatte er daraus.

      »Ungewöhnlich in der Tat …«, sagte Jobst. »Vielleicht hat die Schwalbe dennoch einen Pfeil aufbewahrt – im stillen Angedenken an den wehrhaften Gatten – … – denn ich kaufte ihr seinerzeit alle Bögen und Pfeile, soweit noch vorhanden, ab. Ihr Mann hatte freilich seinen besten Bogen mit im Krieg und auch sicher drei Schock Pfeile. Was überhaupt noch übrig war an Kriegsgerät, wollte sie loswerden.«

      Bartholdi und Jobst waren noch mit dem Rätsel dieser singulären eisernen Pfeilspitze beschäftigt, als sie die Stimme von Till hörten, einem vom Feuer verschont gebliebenen Nachbarn. Buhlmann wohnte rechts neben der Lücke – Till links. Er teilte seinen Namen ganz zu Unrecht mit Ulenspiegel – denn er war ein humorloser Geselle, auch wenn er dauernd grinste. Ein Gerber eben.

      »Es musste ja so enden, das hab ich immer gesagt! Sie hat es abgestritten, aber es war doch, wie ich gesagt hab. Schaut

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