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seinen Füßen hatte Janine noch nie gesehen. Es sah aus wie ein Skateboard, hatte aber statt vier kleiner Rädern auf der Unterseite an jedem Ende ein großes Rad. Der junge Mann schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Den Grund dafür erkannte Janine, als er näherkam. Ein Kabel führte von der Hosentasche in seine Ohren. Die Augen auf den Boden vor sich gerichtet, bemerkte der junge Mann den Fußgänger nicht, der den Weg entlang ging. Erschrocken klopfte Janine an die Scheibe. Danny Norden blieb stehen. Janine konnte gerade noch einen Schrei ausstoßen. Dann wälzte sich auch schon ein Knäuel Menschen auf dem Boden.

      Janines spitzer Schrei ließ Wendy hochfahren. Kaffee spritzte über die Schreibtischunterlage. Sie achtete nicht darauf und folgte ihrer Freundin und Kollegin nach draußen.

      »Alles in Ordnung, Chef?«, rief Janine schon von Weitem. Sie atmete auf, als er sich hochrappelte.

      »Alles gut.«

      Im nächsten Augenblick beugte sich Danny über den jungen Mann, der auf dem Boden saß, die Hände um das rechte Knie geschlungen. Ein feuchter Fleck färbte den Jeansstoff dunkel.

      »Hast du dir weh getan?«

      »Geht schon.«

      Dr. Norden überlegte nicht lange.

      »Am besten, du kommst mit in die Praxis.« Er bemerkte den fragenden Blick. »Ich bin Arzt.«

      »Wie praktisch.« Der Teenager schnitt eine Grimasse. Zumindest seinen Humor schien er noch nicht verloren zu haben. Er rappelte sich hoch, sammelte sein Fahrzeug ein und ließ sich von der kompletten Belegschaft in die Praxisräume begleiten. »Tut mir leid, dass ich Sie umgefahren habe«, entschuldigte er sich bei Danny Norden.

      »Das alles war meine Schuld«, jammerte Janine und hielte die Tür zum Behandlungszimmer auf. »Wenn ich nicht an die Scheibe geklopft hätte …«

      »Dann hätte mich der junge Mann einen Meter weiter über den Haufen gefahren«, beendete Danny den Satz. »Ein Glück, dass du wenigstens einen Helm aufhast.«

      »Ohne den lässt mein Vater mich nicht Hoverboard fahren.«

      »Kluger Mann.« Danny nickte anerkennend. »Was ist das überhaupt für ein Ding?« Er deutete auf das Board, das unschuldig am Schrank lehnte.

      »Ein Hover- oder E-Board«, erklärte der junge Mann mit Besitzerstolz. »Es hält sich durch eine elektronische Antriebsregelung selbst in Balance. Durch Gewichtsverlagerung und die Fußstellung kann der Fahrer die Richtung bestimmen.«

      »Vorausgesetzt, er ist nicht durch Musik abgelenkt«, ergänzte Danny schmunzelnd.

      Der Teenager erwiderte das Lächeln.

      »Ohne Musik macht es nur halb so viel Spaß.«

      »Verstehe.« Danny nickte und streckte die Rechte aus. »Ich bin übrigens Danny Norden«, stellte er sich vor, als sein Patient vor ihm auf der Liege lag.

      »Mein Name ist Malte Stein.«

      Klirrend fiel eine Schere zu Boden. Janine fuhr herum und starrte den Teenager an.

      »Dein Vater ist Arndt Stein? Der Arzt?«

      Malte lächelte.

      »Stimmt. Kennen Sie sich?«

      »Ich … Wir … Nun ja …« Wie sollte sie ihm beibringen, dass sie die neue Freundin seines Vaters war?

      Maltes Augen wurden schmal.

      »Sind Sie die neue Freundin von meinem Vater? Super! Ich wusste ja, dass er einen guten Geschmack hat.«

      »Vielen Dank für die Blumen.« Janine schluckte. Was hatte Arndt seinem Sohn erzählt? Und überhaupt: Wie viele Frauen hatte er seinem Sprössling schon präsentiert, seit die Mutter die Familie verlassen hatte? In diesem Moment verfluchte sie ihre Zurückhaltung. »Genau die bin ich. Ich sollte heute Abend zu euch zum Essen kommen.«

      »Und? Wollen Sie jetzt nicht mehr?«

      Janine stand noch immer da und suchte nach Worten. Deshalb beschloss Danny, das Ruder wieder zu übernehmen.

      »Zuerst einmal sollten wir herausfinden, ob Sie heute Abend überhaupt einsatzfähig sind.«

      »Du. Nicht Sie. Sonst fühle ich mich so alt.« Malte deutete auf die Schere, die noch immer auf dem Boden lag. »Um das herauszufinden, brauchen wir die wahrscheinlich. Anders komme ich aus der Hose nicht mehr raus.«

      Das war das Signal für Janine. Sie bückte sich nach der Schere. Froh, etwas tun zu können, machte sie sich ans Werk.

      *

      Seit dem Umzug in ihr Wolkenkuckucksheim – so hatte Tatjana die alte Villa getauft – verbrachte sie jede freie Minute in ihrem neuen Zuhause. Zum Glück lag es fußläufig zur Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ und war in weniger als zehn Minuten zu erreichen. Statt wie sonst Kaffeepausen in der Bäckerei zu machen, sprintete Tatjana mehrmals täglich hinüber, um eine Nische auszumessen oder eine Umzugskiste auszuräumen. Besonders geeignet dazu war die Stunde zwischen Mittag und Kaffeezeit, wenn nur wenige Gäste im Café saßen. Diese Gelegenheit nutzte Tatjana auch an diesem frühen Nachmittag. Atemlos sprang sie den Gartenweg hinauf. Den Blick auf das Nachbarhaus vermied sie dabei wohlweislich. Thomas und Evelyn Eckert hatten tief in die Trickkiste gegriffen, um ihnen das neu erworbene Haus zu einem günstigen Preis abzuschwatzen. Deshalb stand es um ihr Verhältnis nicht zum Besten. Kein Problem für Tatjana. Sie war wild entschlossen, ihr neues Paradies mit Krallen und Zähnen zu verteidigen.

      Doch daran verschwendete sie im Augenblick keinen Gedanken. Wie jedes Mal, wenn sich der Schlüssel im Schloss der schweren Holztür drehte, veränderte sich Tatjanas Gesichtsausdruck. Wie verzaubert wanderte sie durch die Zimmer. Genoss das Geräusch, das ihre Absätze auf den schwarz-weiß gemusterten Steinfliesen machten. Lauschte auf das Knarren der Holzdielen und das Zwitschern der Vögel in den alten Bäumen im Garten. Stundenlang hätte sie durch die noch spärlich möblierten Räume wandern und träumen können. Schweren Herzens besann sie sich auf den Grund, wegen dem sie gekommen war. In ihrem Lager über der Bäckerei war sie auf einen Küchenwagen aus Holz gestoßen. Auf Rollen, mit solider Arbeitsplatte und Schubladen für Arbeitsbesteck. Ob er wohl in die Küche der Villa passte? Zu diesem Zweck zückte Tatjana den Zollstock und wollte sich an die Arbeit machen, als ein tiefer Gong durch das Erdgeschoss hallte. Tatjana zögerte. Sollte sie wirklich öffnen, oder lieber ihre Arbeit machen? Schließlich konnte sie nicht ewig hierbleiben. Titus und Florentina brauchten ihre Unterstützung in der Bäckerei. In diese Überlegungen hinein läutete es wieder. Seufzend machte sich Tatjana auf den Weg zur Tür. Und bereute es zwanzig Sekunden später zutiefst.

      »Evelyn.« Ausgerechnet ihre Nachbarin.

      Sie hielt Tatjana einen Kaktus im Topf hin.

      »Kleines Geschenk zum Einzug.«

      »Danke.« Tatjana sah Evelyn Eckert nach, die an ihr vorbei durch den Flur schlenderte. Bei jedem Schritt klimperte und klirrte es. Sollte sie zum Angriff übergehen? Andererseits war ein Nachbarschaftskrieg nicht gerade erstrebenswert. Vielleicht war es besser, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

      »Ich wollte mal sehen, wie ihr euch so einrichtet«, hallte Evelyns Stimme durch das Erdgeschoss.

      Tatjana stellte den Kaktus auf einen der Umzugskartons, die sich in jeder Ecke stapelten, und nahm die Verfolgung auf.

      »Wir müssen ja beide arbeiten. Deshalb haben wir beschlossen, den Umzug Stück für Stück zu machen.«

      Evelyn war im Wohnzimmer angekommen. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse.

      »Interessante Wandfarbe. Aber das kommt wahrscheinlich dabei heraus, wenn sich ein halbblinder Mensch als Innenarchitekt versucht.«

      »Die Wände sind weiß, Evelyn.« Tatjanas Lächeln passte nicht recht zu ihrer spitzen Stimme. »Schlicht und ergreifend weiß.«

      »Bisschen langweilig, findest du nicht?«

      »Beruhigend.«

      »Na ja.« Evelyn verstand

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