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englischen Presse, die mit wachsender Eindringlichkeit in Artikeln damals den Abbruch des Ruhrabenteuers von Frankreich forderte. Sie führte dabei eine Sprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, und spiegelte einen fast vollständigen Bruch zwischen den beiden Bundesgenossen aus dem Weltkriege wider, der durch die offiziellen Beteuerungen des englischen Auswärtigen Amtes wenig überzeugend für uns Deutsche verdeckt werden sollte.

      Schließlich aber war die deutsche Widerstandskraft am Ende. Noch einmal machte Stresemann einen Versuch, England zum Eingreifen zu veranlassen. Auch dieser dramatische Schriftsatz ging durch meine Hände, ebenso wie die sofort darauf erfolgende völlig niederschmetternde Antwort von jenseits des Kanals: Deutschland müsse zuerst den passiven Widerstand aufgeben. Gleichzeitig erhob die britische Regierung den Vorwurf, daß ihre früheren Ratschläge, das Reich solle auf den passiven Widerstand verzichten, solange er noch den Wert eines Verhandlungsobjektes besäße, gegen dessen Aufgabe man Konzessionen eintauschen könnte, in den Wind geschlagen worden seien. Aus den teilweise recht unfreundlichen Formulierungen war ersichtlich, daß wir auf England nicht rechnen konnten.

      Die Lage war also hoffnungslos. Da traf in letzter Minute ein Brief von Professor Haguenin ein, der schon vor dem Weltkriege an der Berliner Universität tätig gewesen war und unmittelbar danach als französischer Vertreter in Deutschland fungiert hatte. Er kannte Stresemann und wußte um dessen Ansichten über eine deutsch-französische Verständigung. Er gab daher seiner Freude über die Ernennung Stresemanns zum Reichskanzler Ausdruck und bot gleichzeitig seine guten Dienste in Frankreich an, falls man ihn brauchen könnte.

      Wir hörten nach einigen Tagen, Stresemann habe dieses Angebot angenommen und Haguenin sei tatsächlich bis zu Poincaré vorgedrungen; er habe aber nichts erreichen können. Völlig niedergeschlagen, so hieß es dann, sei Haguenin aus Paris zurückgekehrt.

      „Wir verstehen nicht zu siegen“, soll er in seiner Enttäuschung über die französische Unnachgiebigkeit gesagt haben. „Die Völker drücken sich manchmal in einer Sprache aus, für die es keine Übersetzung gibt. Vielleicht können überhaupt nur einzelne Menschen die Schranken von Nation zu Nation überspringen.“

      Damit war nun auch der letzte Versuch gescheitert. Bei uns im Sprachendienst setzte völlige Ruhe ein. Wir bekamen nichts mehr zu übersetzen. Es war ein unheimlicher Zustand nach der Überfülle der Arbeit in den letzten Wochen. Nachdem wir im Anschluß an jede Übersetzung einer weiteren Rede Stresemanns und immer neuer Vorschläge und Anregungen voller Spannung auf Poincarés Gegenäußerung gewartet hatten und diese dann immer wieder wie ein kalter Wasserstrahl mit einem kompromißlosen Nein in unseren Arbeitsraum drang, waren wir jetzt durch die lautlose Stille noch beunruhigter als vorher durch die ungleiche Diskussion.

      Zwar ahnten wir, wie die meisten Deutschen, was kommen mußte. Als wir eines Morgens Ende September unseren Dienst antraten, erfuhren wir, daß der passive Widerstand aufgegeben worden sei. Es war Frankreich gegenüber eine fast so bedingungslose Kapitulation wie die von 1945. Dennoch war dieser Augenblick des tiefsten Zusammenbruches gleichzeitig der Wendepunkt zur Besserung.

      Das Haupthindernis, mit Frankreich und vor allem mit England ins Gespräch zu kommen, war damit beseitigt. Der Preis war freilich außerordentlich hoch, besonders für Stresemann persönlich. Haß und Verachtung brandeten von allen Seiten gegen ihn an. Das wurde besonders deutlich, als er Anfang Oktober nach der Umbildung seines Kabinetts vor dem Reichstag erschien, um sich wegen des Fehlschlagens seiner Politik zu rechtfertigen. Wieder übersetzten wir unter Heranziehung aller verfügbaren Mitarbeiter seine Ausführungen für das Ausland. Deutlich entsinne ich mich noch der Stellen, in denen er mit großem Mut unumwunden zugab, daß er in dem Bemühen, aus dem Verzicht auf den passiven Widerstand außenpolitisches Kapital zu schlagen, gescheitert sei. „Wir haben einen Mißerfolg erlitten“, erklärte er ohne Umschweife.

      Meiner Erinnerung nach hat es nach ihm keinen deutschen Staatsmann wieder gegeben, der mit so vorbehaltloser Offenheit von seinen eigenen Mißerfolgen gesprochen hat. Wie anders verhielt sich die deutsche Staatsführung bei jener späteren Kapitulation des Jahres 1945! Welche Abgründe trennen die „Staatsmänner“ von 1945 von dem aufrechten Mann von 1923, der zwar – völlig ohne eigene Schuld, denn er war erst kurze Zeit Reichskanzler – auch kapitulieren mußte, aber sich sofort danach mit Mut und Geschick an den Wiederaufbau machte. Vor allem mit Mut. Wie oft habe ich, besonders in den Jahren nach 1933, gerade an diese Reichstagsrede Stresemanns gedacht. Seine Worte sind mir noch heute genau so im Gedächtnis, wie ich sie damals übersetzen mußte: „Der Mut, die Aufgabe des passiven Widerstandes verantwortlich auf sich zu nehmen, ist vielleicht mehr national als die Phrasen, mit denen dagegen angekämpft wurde. Ich war mir bewußt, daß ich in dem Augenblick, wo ich das tat, als Führer meiner Partei, die nach einer ganz anderen Richtung eingestellt war, damit nicht nur vielleicht die eigene politische Stellung in der Partei, ja, das Leben auf das Spiel setzte. Aber was fehlt uns im deutschen Volke? Uns fehlt der Mut zur Verantwortlichkeit.“

      Neben dem Mut zur Verantwortlichkeit stand das diplomatische Geschick Stresemanns, das diese Kapitulation schließlich doch noch zum Ausgangspunkt für den Wiederaufstieg seines darniederliegenden Landes machte. Ich habe in der Folge noch oft Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaft bei ihm zu bewundern. Ich habe neben ihm gesessen, wenn er mit den ausländischen Staatsmännern sprach, und habe dabei erkannt, daß sein diplomatisches Talent nichts Machiavellistisches an sich hatte. Es beruhte auf einer natürlichen Gabe und der ehrlichen Überzeugung, daß die Wiedergesundung Deutschlands nur auf einer Verständigung mit Frankreich aufgebaut und im europäischen Rahmen durchgeführt werden konnte. Stresemann war mehr als ein guter Deutscher, er war ein guter Europäer und hat mir, der ich sein Wirken aus nächster Nähe beobachten konnte, die Überzeugung mitgegeben, daß man das eine nicht ohne das andere sein kann.

      Für uns im Sprachendienst traten nun also zunächst etwas ruhigere Zeiten ein. Es gab bis auf weiteres keine durchgearbeiteten Nächte und keine Heranziehung unserer ausländischen „Zeitfreiwilligen“ mehr wie in den aufregenden Tagen des Sommers und Herbstes. Der Schwerpunkt der Ereignisse ging jetzt auf die Innenpolitik über. Kurze Zeit nach der Einstellung des passiven Widerstandes wurde noch im Oktober die deutsche Rentenbank gegründet, die der Inflation ein Ende bereiten sollte. Die endgültige Stabilisierung trat jedoch erst einen Monat später ein, und zwar hatte der Dollar den astronomischen Wert von 2,52 Billionen Reichsmark, an den Auslandsbörsen und an den schwarzen Börsen des besetzten Gebietes sogar von 4 Billionen erreicht. Dann geschah das „Wunder der Rentenmark“, das diesen Namen mit noch größerem Recht verdiente als das „Wunder der Währungsreform“ im Jahre 1948: In beiden Fällen aber war der plötzlich eingetretene Umschwung erstaunlich und beinahe unfaßlich.

      Während so auf außenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet eine gewisse Beruhigung eingetreten war, ging es in der Reichspolitik selbst um so aufregender zu. Mit offenkundiger Unterstützung durch die Franzosen brachen an vielen Orten des Rheinlandes und der Pfalz Separatistenunruhen aus. Die sächsische Regierung mußte mit Hilfe der Reichswehr abgesetzt werden. Ähnliche Maßnahmen waren in Thüringen notwendig, und das Verhältnis zwischen Bayern und dem Reich spitzte sich gefährlich zu. Gegen Ende des Jahres 1923 aber waren alle Schwierigkeiten überwunden, wenigstens vorübergehend. Ein Krisenjahr erster Ordnung war zu Ende. Deutschland hatte am Rande des Abgrundes gestanden. Es war letzten Endes durch die geschickte Führung der damaligen Leiter der deutschen Politik vor der Katastrophe bewahrt geblieben, so kritisch auch die deutsche öffentliche Meinung den einzelnen Persönlichkeiten der Regierung gegenüberstehen mochte.

      Ende November stürzte das Kabinett Stresemann, weil der Einmarsch in Sachsen für die Sozialdemokratie zu einer so schweren Belastungsprobe wurde, daß sie sich aus der Regierungs-Koalition zurückzog. Auch außenpolitisch sank das Barometer wieder, denn von Seiten Frankreichs wurde nach Aufgabe des passiven Widerstandes der gleiche kompromißlose Kurs eingehalten wie vorher. Im Ruhrgebiet änderte sich so gut wie nichts. Die Abtrennungsbestrebungen gingen im Gegenteil weiter. Die Ruhrbehörde der damaligen Zeit, die französisch-belgische M. I. C. U. M. (Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines), verhandelte unter Umgehung der deutschen Behörden direkt mit den Ruhrindustriellen und bürdete ihnen schwere Lasten auf. Glücklicherweise aber blieb Stresemann dem Auswärtigen Amt als Chef, dem deutschen Volk als Leiter seiner Außenpolitik

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