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durch den großzügigeren Herriot abgelöst, aber das Mißtrauen in Frankreich konnte auch dieser nicht von heute auf morgen überwinden. Das französische Parlament lag noch zum großen Teil auf der alten Linie Poincarés und wollte das „produktive“ Pfand nicht ohne weiteres aufgeben. Dazu kam, daß die alte Sorge um die Sicherheit als eine schwere Hypothek auf der neuen französischen Regierung lastete. Noch einmal, Gott sei Dank zum letzten Male, schien die Frage der Militärkontrolle ein Hindernis auf dem Wege von der reinen Machtpolitik zur Verständigungspolitik bilden zu sollen.

      Herriot hatte sich im Juni mit MacDonald auf dem amtlichen Landsitz der englischen Premierminister in Chequers bei London getroffen, um die Frage der Durchführung des Sachverständigengutachtens über die Reparationsregelung mit ihm zu besprechen. Bei dieser Gelegenheit hatten beide in einem eindringlichen, fast beschwörenden Brief an den Reichskanzler Marx die deutsche Regierung aufgefordert, einer letzten Überprüfung der deutschen Abrüstung durch die alliierte Militärkontroll-kommission zuzustimmen. Das war in der damaligen Atmosphäre für die deutschen Politiker eine schwere Belastung; sie wurde aber trotz heftiger Widerstände im Reichstag übernommen, um der sich anbahnenden vernünftigeren Entwicklung nicht noch in letzter Minute Schwierigkeiten zu bereiten.

      So kam denn im August tatsächlich die Londoner Konferenz zustande. Ein schwerwiegender Schönheitsfehler, der in recht unangenehmer Weise an die früheren Verhandlungsmethoden der Alliierten mit Deutschland erinnerte, war dabei allerdings die Tatsache, daß sich die Alliierten zunächst untereinander besprachen und Deutschland erst danach zu den Verhandlungen einluden.

      Anfang August übersetzte der Sprachendienst die dem deutschen Botschafter in London von MacDonald übergebene Einladung, die insofern enttäuschte, als sie jede Erörterung der politischen Fragen auszuschließen schien. Sie beschränkte sich darauf, die deutsche Regierung zur Entsendung von Vertretern aufzufordern, „um mit der Konferenz die besten Methoden für die Inkraftsetzung des Dawes-Berichtes zu erörtern, den die alliierten Regierungen ihrerseits als Ganzes angenommen haben“. Aber es zeigte sich auch hier, wie ich dies in späteren Jahren immer wieder erlebt habe, daß die Verhältnisse stärker waren als die Absichten der Menschen. Denn tatsächlich kam es trotz dieser Beschränkung in London zu ausgiebigen politischen Erörterungen zwischen Frankreich und Deutschland, die das Wort vom Silberstreifen wohl rechtfertigten.

      Am 4. August um 9 Uhr früh reiste die deutsche Delegation unter Führung von Marx, Stresemann und Luther, dem damaligen Finanzminister, vom Bahnhof Friedrichstraße in einem Sonderzug nach London ab. Es war die erste offizielle Abreise von vielen, die ich von Berlin aus angetreten habe. Ich wurde zunächst unter den Dolmetschern lediglich als „junger Mann“ mitgenommen; Chefdolmetscher war natürlich der Veteran der Konferenzen, Dr. Michaelis. Der Zwischenfall im Haag, dem ich mein amtliches Dasein verdankte, hatte ihm nicht den geringsten Abbruch getan. Er war nach wie vor der große Sachverständige auf sprachlichem Gebiet. Als zweiter Dolmetscher fungierte Dr. Fritz Norden, ein Jurist mit umfassender Bildung, der vor dem Kriege als Rechtsanwalt in Brüssel tätig gewesen war und sich dort nicht nur eine hervorragende Kenntnis der französischen Rechtssprache, sondern auch ein umfassendes völkerrechtliches Wissen erworben hatte. Wieder legte ich mir die Frage vor, was ich, der Anfänger, in diesem Kreis erfahrener alter Beamter eigentlich zu suchen hatte. Ich kam mir in jeder Hinsicht als kleines „Schlußlicht“ dieser gewichtigen Delegation vor. Aber ich war diesmal doch nicht so bedrückt wie auf meiner ersten Reise nach dem Haag. Denn ich fühlte mich als Nummer 3 im Schlepptau der beiden großen Kollegen einigermaßen sicher. Die Hauptarbeit und die schwierigsten Proben würden ja wohl doch von den beiden anderen geleistet werden müssen.

      Außerdem wurde ich natürlich durch das Drum und Dran einer solchen Delegationsreise zu sehr in Anspruch genommen, als daß ich mir Sorgen wegen der unmittelbaren Zukunft hätte machen können. Der Bahnhof war von starken Polizeikräften geschützt, denn die Lage in Deutschland war damals innenpolitisch noch so gespannt und die Meinungen über das Dawes-Gutachten und die Londoner Konferenz waren so geteilt, daß man angesichts der ausgesprochenen Feindschaft, die die Rechtskreise Stresemann gegenüber an den Tag legten, mit Demonstrationen und Zwischenfällen, ja mit Attentaten wie im Falle Rathenau und Erzberger rechnete.

      Der Sonderzug selbst hatte natürlich nichts gemein mit den prunkhaften „Millionärszügen“, in denen derartige Delegationen in der Zeit nach 1933 zu reisen pflegten. Er bestand aus gewöhnlichen Personenwagen und führte nur einen alten Salonwagen aus der Kaiserzeit für die Mitglieder des Kabinetts.

      Daß die Absperrungen in Berlin nicht ganz zu Unrecht erfolgt waren, zeigte sich unterwegs. In Löhne in Westfalen hielt unser Zug gerade in dem Augenblick, als die ganze Delegation im Speisewagen beim Mittagessen saß. Die Menschen sammelten sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig in dichten Scharen, als sie Marx und Stresemann erkannten, und die Zurufe, die aus ihrer Mitte erschollen, waren wenig freundlich. Sie steigerten sich allmählich zu einem solchen Tumult, daß wir die Sonnenvorhänge herunterließen und froh waren, als der Zug ohne Zwischenfall abfuhr. Es war für mich eine sehr eindringliche Demonstration der Schwierigkeiten, mit denen die damalige politische Führung im Innern zu kämpfen hatte.

      An diese Szene habe ich noch öfter gedacht, wenn in späteren Gesprächen zwischen den Staatsmännern davon die Rede war, daß man diese oder jene Konzession, obwohl man ihre Berechtigung anerkannte, der öffentlichen Meinung nicht zumuten könne. Im Gegensatz zu späteren Zeiten hatten die Minister, unter denen ich bis 1933 arbeitete, eine Art Zweifrontenstellung einzunehmen. Zu den Schwierigkeiten dem Ausland gegenüber kamen die Rücksichten auf das Inland, die nicht weniger große Komplikationen mit sich brachten als die außenpolitischen Probleme selbst. Ein erfolgreicher Außenminister mußte gleichzeitig ein guter Kenner und Beherrscher der innerpolitischen Strömungen sein.

      Gegen Abend kamen wir nach Holland. Es war dieselbe Strecke, die ich schon vor einem Jahr unter so ganz anderen Umständen zurückgelegt hatte. Aber sie führte diesmal viel weiter, und zwar nicht nur geographisch. Um Mitternacht gingen wir in Hoek van Holland an Bord des holländischen Dampfers, der den regelmäßigen Nachtverkehr nach Harwich in England versieht. Mein gelehrter Kollege Norden erging sich in historischen Betrachtungen über „diesen ersten deutschen Kanzler, der sich über das Meer hinweg ins Ausland begibt.“

      Zum ersten Male in meinem Leben betrat ich am anderen Morgen den Boden Englands. An den fahrplanmäßigen Zug nach London wurden für uns einige Wagen angehängt und gegen 9 Uhr morgens trafen wir in London auf der Liverpool Street Station ein. An der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs hielten die Wagen, die uns ins Hotel brachten. So lernte ich gleich eine jener praktischen Einrichtungen der englischen Bahnhöfe kennen, die jedem vom Kontinent kommenden Reisenden sofort auffallen. Der Straßenverkehr geht bis unmittelbar an die Eisenbahnzüge. Auf unserem Wege zum Hotel kamen wir durch die verkehrsreichsten und um diese Morgenstunde besonders stark durch den Berufsverkehr belebten Straßen Londons.

      Michaelis eilte natürlich sofort ins Ritz-Hotel, wo die deutschen Hauptdelegierten untergebracht waren. Norden und ich aber hatten zunächst nichts zu tun und schlenderten daher in den nahe gelegenen Green Park. Hier erlebten wir mitten in dem Häusermeer von London einen regelrechten Sommertag auf dem Lande. Die Bäume des Parkes waren so dicht, daß man die Stadt nur noch wie in der Ferne erkennen konnte. Der herrliche englische Rasen bildete einen wunderbaren, grünen Teppich, ganz in der Nähe weidete sogar eine Schafherde unter Aufsicht eines richtigen Schäfers. Nur die am Rande des Green Parks als muntere, rote Tupfen durch das Grün der Blätter dahineilenden Autobusse vom Piccadilly und das in London allgegenwärtige ferne Brausen des Riesenverkehrs erinnerten uns daran, daß wir uns trotz dieses ländlichen Idylls mitten in der größten Stadt Europas befanden.

      So vergingen die ersten Tage in völliger Ruhe. Ich benutzte die Zeit, um mir von den damals noch offenen Oberdecks der Autobusse auf Kreuz- und Querfahrten durch London die Stadt gründlich anzusehen. Da traf ich eines Nachmittags auf einer dieser Besichtigungstouren ein anderes Delegationsmitglied.

      „Gehen Sie nur um Gottes willen schnell ins Ritz-Hotel“, rief er mir etwas aufgeregt zu, „Sie werden dort wie eine Stecknadel gesucht.“ Mit einem etwas schlechten Gewissen wegen meiner allzu langen Abwesenheit von der Delegation begab ich mich auf dem schnellsten Wege ins Hotel.

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