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Hauptmann nach wenigen Wochen des Aufenthalts „[…] vergessen hatte seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erste Mal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, dass die Zeit anfange ihnen gleichgültig zu werden.“ (I,7)

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      Goethe um 1775. Gemälde von Georg Melchior Kraus

      Ähnlich unbestimmt wie die Zeit ist auch der Ort der Handlung; nirgends wird ein Hinweis auf die Lage des Landguts gegeben. Wie in zeitlicher, so leben die Personen auch in räumlicher Abgeschlossenheit. Das Geschehen beschränkt sich fast völlig auf den engen Bereich von Schloss, Landgut und Dorf. Zwar verlassen der Hauptmann und Eduard vorübergehend diesen Bereich, werden aber vom Erzähler für die Dauer ihrer Abwesenheit ignoriert. Ein einziges Mal, bei Ottilies Abreise zur Pension (II,16), tritt der Erzähler aus der kleinen Welt des Romans hinaus.

      Der fehlende Bezug zur Realität „erschafft eine künstliche Welt, die losgelöst von Zeit und Raum existieren kann.“

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      Er liebt mich von Illustrationen von Gustav Schlick. Gestochen von Adolf Hohneck (1834)

      Der Begriff Wahlverwandtschaft zeigt sich in der Beziehung zwischen Eduard und Charlotte, die sich lieben und zusammen leben. Kaum aber kommen Ottilie und Otto zu Besuch, denkt jeder der beiden, dass Ottilie/Otto besser zu ihm/ihr passe. Bei Eduard wird es sehr deutlich gezeigt, er bemüht sich darum, Ottilie für sich zu gewinnen. Es herrscht nur „eine Natur“, so schreibt Goethe, da „auch durch das Reich der heiteren Vernunftfreiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeiten sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind“. Goethe will damit zeigen, dass die Gesellschaftsordnung zu dieser Zeit bereits total veraltet sei, und kritisiert die Gesellschaft, doch der Roman stieß bei Goethes Zeitgenossen auf nur wenig Verständnis.

      Eduard ist von der Idee der Wahlverwandtschaften überzeugt und glaubt, sie auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen zu können. Dass dies am Ende nicht gelingt, verdeutlicht die gesellschaftlichen Zwänge, die in jener Zeit vorherrschten. Vorlage für die Parkanlage könnte die Eremitage in Arlesheim gewesen sein. Pläne des um 1785 angelegten englischen Gartens kursierten in Gelehrtenkreisen. Goethe selbst kam allerdings auf keiner seiner Schweizreisen in Arlesheim vorbei. Gemeinhin bekannt ist jedoch, dass Goethe durch mehrfache Reisen das sogenannte "Gartenreich", das Fürstentum Anhalt-Dessau, genauestens kannte, welches vielfache Bezüge zu den in den Wahlverwandtschaften zitierten Charakteristika des romantischen Landschaftsparks erkennen lässt. Am deutlichsten wird dies in der von Goethe geschilderten Neuordnung des Begräbnisplatzes durch Charlotte. Hierfür diente offenbar der gegen Ende des 18. Jahrhunderts neu angelegte Friedhof von Dessau als direktes Vorbild. Bei dem Architekten handelt es sich um Daniel Engelhard, einen befreundeten Architekten des Klassizismus.

      Außer durch den Erzähler und die direkte Rede erfährt der Leser vieles aus Ottiliens Tagebuche. Die zunächst scheinbar lose Aneinanderreihung von Gedanken entbehrt dennoch nicht eines übergeordneten Zusammenhanges: So wie den Tauen der britischen Marine ein roter Faden eingewoben ist, „den man nicht herauswinden kann ohne alles aufzulösen“, „eben so zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüche und was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für sie von Bedeutung.“ (II; Kap. 2). Der Erzähler weist den Leser gleichsam darauf hin, dass etliche der Aphorismen wohl kaum von Ottilie selbst stammen können: „Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner angemerkt, dagegen häufiger auf das Leben bezügliche und vom Leben abgezogene Maximen und Sentenzen. Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein können; so ist es wahrscheinlich, dass man ihr irgend einen (sic!) Heft mitgeteilt, aus dem sie sich was ihr gemütlich war, ausgeschrieben.“ (II, Kap. 4)

      „Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.“ (2. Teil, 4. Kapitel)„Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ (2. Teil, 5. Kapitel)„Es gibt keinen größeren Trost für die Mittelmäßigkeit, als dass das Genie nicht unsterblich sei.“ (2. Teil, 5. Kapitel)

      Durch Ottiliens Mund nimmt Goethe teilweise die Handlung vorweg. Dass sie am Ende sterben muss, resultiert aus der inneren Notwendigkeit der Romanhandlung. Das Experiment scheitert, weil die Gesellschaft nicht jene Bindungsfreiheit zulässt, die für chemische Wahlverwandtschaften notwendig ist.

      Erster Teil

      Erstes Kapitel

      Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen. Sein Geschäft war eben vollendet; er legte die Gerätschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergnügen, als der Gärtner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleiße des Herrn ergetzte.

      »Hast du meine Frau nicht gesehen?« fragte Eduard, indem er sich weiterzugehen anschickte.

      »Drüben in den neuen Anlagen«, versetzte der Gärtner. »Die Mooshütte wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegenüber, gebaut hat. Alles ist recht schön geworden und muß Euer Gnaden gefallen. Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, über deren Turmspitze man fast hinwegsieht, gegenüber das Schloß und die Gärten.«

      »Ganz recht,« versetzte Eduard; »einige Schritte von hier konnte ich die Leute arbeiten sehen.«

      »Dann«, fuhr der Gärtner fort, »öffnet sich rechts das Tal, und man sieht über die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne. Der Stieg die Felsen hinauf ist gar hübsch angelegt. Die gnädige Frau versteht es; man arbeitet unter ihr mit Vergnügen.«

      »Geh zu ihr«, sagte Eduard, »und ersuche sie, auf mich zu warten. Sage ihr, ich wünsche die neue Schöpfung zu sehen und mich daran zu erfreuen.«

      Der Gärtner entfernte sich eilig, und Eduard folgte bald.

      Dieser stieg nun die Terrassen hinunter, musterte im Vorbeigehen Gewächshäuser und Treibebeete, bis er ans Wasser, dann über einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwei Arme teilte. Den einen, der über den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging, ließ er liegen, um den andern einzuschlagen, der sich links etwas weiter durch anmutiges Gebüsch sachte hinaufwand; da, wo beide zusammentrafen, setzte er sich für einen Augenblick auf einer wohlangebrachten Bank nieder, betrat sodann den eigentlichen Stieg und sah sich durch allerlei Treppen und Absätze auf dem schmalen, bald mehr bald weniger steilen Wege endlich zur Mooshütte geleitet.

      An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte. Er freute sich daran in Hoffnung, daß der Frühling bald alles noch reichlicher beleben würde. »Nur eines habe ich zu erinnern,« setzte er hinzu, »die Hütte scheint mir etwas zu eng.«

      »Für uns beide doch geräumig genug,« versetzte Charlotte.

      »Nun freilich,« sagte Eduard, »für einen Dritten ist auch wohl noch Platz.«

      »Warum nicht?« versetzte Charlotte, »und auch für ein Viertes. Für größere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten.«

      »Da wir denn ungestört hier allein sind«, sagte Eduard, »und ganz ruhigen, heiteren Sinnes, so muß ich dir gestehen, daß ich schon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muß und möchte, und nicht dazu kommen kann.«

      »Ich habe dir so etwas angemerkt,« versetzte Charlotte.

      »Und ich will nur gestehen,« fuhr Eduard fort,

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