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des Opfers zu leisten hatten – wenn man ihn oder sie denn fand. Groper war kein Bürger Hildesheims. Dennoch hatte seine Familie Anspruch auf Rechtsbehelf durch den Hildesheimer Rat, was Brandis richtig fand. Einbeck gehörte zur Sächsischen Städtekonkordie. Deren Gründungsurkunde war im Jahr des Herrn 1384, also vor Brandis’ Geburt, von Goslar, Braunschweig, Hildesheim, Hannover, Lüneburg, Einbeck, Helmstedt, Göttingen, Halberstadt, Quedlinburg und Aschersleben besiegelt worden. Anno 1426 hatte man den Vertrag nicht nur bekräftigt, sondern ihn auch erweitert. Magdeburg, Halle an der Saale, Osterode und Nordheim waren aufgenommen worden, und man hatte sich gegenseitiger Rechtshilfe versichert. Wurde in einer der Städte ein Verbrechen begangen, oder wurde ein Bürger dieser Städte Opfer einer Untat, waren alle Städte verpflichtet, den Täter zu verfolgen. Tile Brandis hielt diesen Vertrag für ein ausgesprochen kluges und ehrenwertes Dokument, zumal er an seiner Abfassung mitgewirkt hatte.

      »So soll es sein«, sagte Harmen Sprenger. Offenbar wollte er so schnell wie möglich den Ort der Untat verlassen.

      »Bader, eines möchte ich von dir noch wissen.« Tile Brandis sprach zwar den Bademeister an, schaute aber auf Alfeld.

      »Ja, Herr?«

      »Als du Klingenbiel zur Ader ließest, war dein Knecht bei dir, nicht wahr? Warum?«

      »Er musste das ausströmende Blut in einer Schale auffangen«, entgegnete der Bader.

      »Hochwürden, ein Mord!«, sagte einer der beiden Kleriker, kaum dass sie das bischöfliche Speisezimmer betreten hatten. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht.

      »Ein Mord?« Der Offizial richtete sich auf.

      »In der Stadt«, sagte der zweite Geistliche. Er war jünger und schwitzte nicht so stark. »Ein Holzhändler aus Einbeck … In der Badestube … erstochen.«

      »Auf städtischem Rechtsgebiet?«, erkundigte sich Domherr Friedag. Die Geistlichen nickten. Bruder Eusebius legte den Hahnenflügel zurück auf den Teller.

      »In der Badestube?« Fannemanns Mund umspielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Bruder Eusebius bemerkte es und war verwundert, denn ein Mord war ein verdammenswertes Verbrechen, über das man nicht schmunzelte. Traurig blickte er zu dem Kapaun. Eine innere Stimme sagte ihm, dass der Vogel unverzehrt in die Küche wandern würde.

      »Wenn das Verbrechen auf städtischem Grund begangen wurde«, sagte der bischöfliche Offizial, »dann ist der Rat für die Verfolgung und das Gericht zuständig.«

      »Was heißt: Wenn?«, fragte Fannemann sichtlich vergnügt. »Wir wissen doch, dass die Untat dem Stadtrecht unterliegt, schließlich wurde sie in einer städtischen Badestube begangen. Sie geht uns also überhaupt nichts an.«

      »So ist es«, bestätigte Eusebius. Noch stand der Kapaun auf dem Tisch, und der Mönch hatte mittlerweile solchen Hunger, er würde ihn auch kalt verschlingen, wenn das nicht unangemessen wäre.

      »Für den Rat ist das natürlich eine unerfreuliche Angelegenheit«, meinte der Weihbischof. »Morde gibt es ja häufiger, aber stellt euch mal vor, was geschieht, wenn sich herumspricht, dass der Rat nicht in der Lage ist, Fremde innerhalb der Stadtmauern vor Übergriffen zu schützen. Danke!« Fannemann bedeutete den beiden Weltgeistlichen mit einem Fingerzeig, dass sie sofort verschwinden sollten. Sie gingen hinaus, begleitet von dem bischöflichen Beamten. Eusebius starrte nicht mehr den Kapaun, sondern seinen Ordensbruder an: Fannemann brütete offensichtlich einen hinterhältigen Gedanken aus. »Man könnte die Tat auch als Verletzung des Gastrechts sehen«, spann dieser seinen Einfall fort, nun ohne unberufene Zeugen. »Ein Zeichen des Chaos, ausgelöst von den Lutheranern. Denkt an die Einbecker. Sie haben 1529 die evangelische Konfession eingeführt, und elf Jahre später brennt die Stadt ab. Ein Strafgericht Gottes?« Fannemann hatte sich in eine Hochstimmung geredet, aber nur Eusebius bemerkte es.

      »Den Brand hat man doch aber Heinrich dem Jüngeren angelastet, und der ist bekanntlich seit dem Tod Herzogs Georg von Sachsen der einzige katholische Fürst im Norden des Reiches«, gab Johann Caspari zu bedenken. »Mehr noch, als Kaiser Karl 1538 in Nürnberg den Heiligen Bund gründete, bestellte er Herzog Heinrich zum Bundeshauptmann für Norddeutschland …«

      »Ja, ja, das ist bekannt.« Balthazar Fannemann wischte den Einwand mit einer herrischen Geste fort. »Angelastet, hast du richtig gesagt. Es wurde ihm angelastet. Glaubst du es denn? Warum sollte der Herzog eine solche Brandstiftung in Auftrag geben? Man hat einfach einen Schuldigen gesucht, und ein katholischer Reichsfürst passt den Martinianern natürlich am besten ins Konzept.« Er trank einen Schluck Wein. »Aber selbst wenn es wahr wäre – das ist vollkommen gleich. Nicht die Wahrheit entscheidet, sondern das, was man dafür ausgibt. Caspari, hole meinen Sekretär!«

      Der Subdiakon stand auf und verließ schnurstracks den Raum. Balthazar Fannemann lächelte Bruder Eusebius zu. Der begann sich ein wenig unbehaglich zu fühlen, weil er nicht wusste, womit er dieses Lächeln verdient hatte. Der Weihbischof plante etwas, das war ihm an der Nasenspitze anzusehen. Eusebius war klug und gebildet, er verfügte auch über Menschenkenntnis, und doch ahnte er nicht, was Bruder Balthazar vorhatte. Immerhin war sein alter Freund ein Mann der Macht. Wenn solche Männer etwas ausheckten, kam selten etwas Gutes dabei heraus.

      Der bischöfliche Secretarius erschien sofort, als hätte er in einem Nebenraum auf die Befehle seines Herrn gewartet. Fannemann diktierte ihm ein Schreiben an alle Prediger des Stifts, die dem Bischof unterstellt waren. Er wies sie an, in ihren Kanzelreden die von den Protestanten verursachte Unordnung und seelische Verwirrung für den Mord in Hildesheim verantwortlich zu machen. Sie sollten aber nicht die Gelegenheit nutzen, die Badestube als Ort der Sünde zu brandmarken; es komme allein darauf an, das Verbrechen als Ausdruck religiöser Wirren zu deuten. Nur ein Mensch, der gegen Gottes ewige Ordnung eingestellt sei, könne einem anderen Menschen, der von Kleidung und Waffen entblößt ein Bad nähme, Derartiges antun.

      »Gegeben zu Hildesheim etc. pp., D. theol. Fannemann, Vikar des Episcopus Valentin in pontificalibus etc. pp.«, beendete der Weihbischof sein Diktat und lehnte sich zufrieden zurück. Eusebius war beeindruckt. Negativ beeindruckt, wenn es so etwas gab. Fannemann war ein brutaler Fuchs. Und der Kapaun war mit Sicherheit eiskalt. »Schreib es nun schnell in der notwendigen Anzahl ab und bringe es mir zum Siegeln in mein Kabinett«, befahl der Weihbischof seinem Sekretär. »Ich möchte, dass es morgen nach Sonnenaufgang von Boten verbreitet wird.«

      »Wie Ihr wünscht, Hochwürden.« Der Secretarius dienerte und verließ eilig den Raum.

      Fannemann blickte in die Runde. »Die Tafel ist aufgehoben«, verkündete er. Etwas ratlos standen die Gäste auf. Niemand hatte etwas von dem Kapaun gegessen, und eigentlich wurden noch zwei weitere Gänge erwartet. Man war auf eine angenehme Plauderei eingestellt gewesen – und auf eine erlesene Speisefolge natürlich –, aber da der höchste geistliche Würdenträger der Diözese nach dem Bischof allein zu sein wünschte, musste man nun aufbrechen.

      Doch Fannemann wollte offenbar keineswegs allein sein.

      »Eusebius, ich bitte dich, noch ein wenig zu bleiben«, sagte er. Eusebius runzelte überrascht die Stirn, schwieg jedoch und nahm wieder Platz. Caspari, Friedag und der Offizial verabschiedeten sich mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln, Balthazar Fannemann rief nach der Magd und verlangte Wein und Gebäck. Dann legte er seinem Ordensbruder die Hand auf den Arm und senkte vertraulich die Stimme.

      »Weißt du schon, wo du dich niederlassen wirst?«, erkundigte er sich.

      Frater Eusebius zuckte die Schultern. Die Frage war berechtigt. Nachdem er im Alter von zwölf Jahren in das Braunschweiger Paulinerkloster eingetreten war, hatte er fast zwei Jahrzehnte mit dem Studium der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, der theologischen Gelehrten und sogar der Schriften von Häretikern und des Martin Luther verbracht, aber auch mit Seelsorge und mit der Verkündigung von Gottes Wort getreu dem Motto des Thomas von Aquin: ›Beschauen und das in der Beschauung Erkannte an andere weitergeben‹. Er hatte die Einheit von Theologie, Seelsorge und Predigt gelebt in der festen Überzeugung, es bis an sein Lebensende in Braunschweig zu tun. Dann jedoch führte der Rat am fünften September Anno incarnacionis Domini 1528 die evangelische Konfession in der Welfenstadt ein. Sowohl die Franziskaner

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