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Mittfasten wurde ein Reichstag gehalten zu Speyer, darin eine allgemeine Türkensteuer beschlossen wurde.

      Die Türkengefahr war allgegenwärtig, auch wenn wohl kaum damit zu rechnen war, dass die Ungläubigen eines Tages vor Hildesheim standen. Ihre Belagerung von Wien im Jahre 1529 war allerdings ein großer Schock für die gesamte Christenheit gewesen, und sie hatte auch die Hildesheimer beschäftigt. Im Einbecker Keller, dem Ratskeller der Stadt, hatten die besseren Bürger schon überlegt, dass es gar nicht mehr darauf ankäme, welcher der christlichen Konfessionen man sich zuwende, sondern dass man besser erwäge, ob man nicht Muselmann werden solle. Tile Brandis schüttelte den Kopf. Ihm war klar, dass sich hinter diesen Scherzen eine große Angst versteckte, denn die Türken galten als rücksichtslos und grausam. Der Dom als Moschee, wie die Muselmanen wohl ihre Kathedralen nannten – das war eine entsetzliche Vorstellung. Immerhin hatten die Türken die Hagia Sophia in Konstantinopel auch in eine Moschee verwandelt. Außerdem betrieben sie Vielweiberei und pressten Frauen aus den eroberten Ländern in ihre Harems; so hieß es jedenfalls. Angesehene Hildesheimer Bürgertöchter als Liebesdienerinnen eines Sultans oder Wesirs? Helfe uns Gott!

      Tile Brandis betrachtete, was er bisher geschrieben hatte. Es gab auch noch eine familiäre Neuigkeit, die der Niederschrift bedurfte: Seine Frau Gesche, eine Tochter des im letzten Dezember verstorbenen Bürgermeisters Hans Wildefuer, war schwanger. Wenn alles gut ging, würde sie im September, dem Monat der Obsternte, ein Kind gebären, und Tile hoffte sehr auf einen Knaben.

      Tile Brandis hatte die Gänsefeder noch einmal erhoben, als plötzlich die Glocken läuteten. Der Ratmann legte die Feder auf den Tisch und sprang auf. Wenig später stürzte sein Knecht Bertolt in die Schreibkammer, die pelzgefütterte Schaube über dem Arm und das Barett in der Hand. Tile fuhr in den langen Mantel, den der Knecht ihm reichte. Der Ruf der Glocke war eindeutig, er verlangte von allen Bürgern, sich sofort zu versammeln. Und als der Ratsherr sein Haus verließ, hörte er auch den lauten Ruf »To jodute, to jodute!«, mit dem das Opfer oder der Zeuge eines Verbrechens die Untat beschrie.

      Jacob Findling war zutiefst enttäuscht. Alles hatte er versucht. Er hatte auf Knien gelegen. Er hatte ewige Treue geschworen. Er hatte Verse vorgetragen. Sogar geweint hatte er. Aber sie – sie hatte nur gelacht.

      Sie lachte gern, obwohl es Sünde war, denn das Lachen hatte der Teufel gemacht. Die Kirche verlangte, dass man das irdische Jammertal mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf durchquerte. Jeder Mensch und das Weib zumal neigte zur Sünde, und die Kirche wurde nicht müde, jederzeit daran zu erinnern.

      Jacob zog den Kopf ein und ließ die Schultern hängen. Er war einer der größten Sünder von Hildesheim. Davon war er überzeugt. Er begehrte eine Frau. Weil er sie begehrte, hatte er sündige Gedanken. Weil er sündige Gedanken hatte, verübte er Schandtaten an sich selbst. Aber nicht nur deshalb lief er mit eingezogenem Kopf und hängenden Schultern die Stobenstraße entlang; er tat es vor allem wegen des Regens.

      Jacob war ein Findelkind. Irgendeine verzweifelte Mutter, die ihn nicht ernähren konnte, hatte ihn vor fast zwanzig Jahren vor der Tür des Knochenhauers Waldemar Klingenbiel abgelegt, vermutlich weil sie wusste, dass er nicht nur ein wohlhabender Mann war, sondern auch ein freigebiger Christenmensch. Klingenbiel hatte für die Andreaskirche einen Altar, ein Vikariat und jährlich zehn Wachskerzen gestiftet. Und er hatte den Findling aufgenommen, obwohl er damals schon eigene Kinder ernähren musste.

      Jacob hatte den Hohen Weg erreicht und wandte sich nach rechts. Nachdem er von dem Mann, den er Vater nannte, aus der Gosse aufgelesen worden war, hatte Klingenbiels Frau Dorothea noch weitere vier Kinder entbunden. Zwei von ihnen waren bereits im Wochenbett eingegangen, eines im ersten Lebensjahr, und das letzte war mit seiner Mutter gestorben. Klingenbiel, damals zweiunddreißig Jahre alt, hatte die fünfzehnjährige Marie Roden zur Frau genommen und war mit ihr nunmehr seit neun Jahren verheiratet. In Marie Klingenbiel war Jacob verliebt. Er begehrte die Frau seines Meisters, die er täglich sah, denn zuerst als Lehrjunge und nun als Geselle lebte er mit Meister und Meisterin unter einem Dach. Wenn Klingenbiel das Haus verließ, um in einen Gasthof oder zu einer Versammlung seiner Zunft zu gehen, empfing Marie den Gesellen heimlich in ihrem Schlafgemach. Sie schäkerte mit ihm, was ihn nur noch verliebter machte, verweigerte ihm aber die Erfüllung seines drängendsten Wunsches. Gern würde er mit ihr schlafen, aber ihr Allerheiligstes öffnete sie ihm nicht.

      Jacob eilte den Hohen Weg ein, zwei Klafter entlang, um dann zum Andreaskirchhof abzubiegen. Der Wind warf ihm Regen ins Gesicht, und dann begannen mit einem Mal die Glocken zu läuten. Jacob erschrak. Es dämmerte bereits, und wenn zu dieser Stunde die Glocken geschlagen wurden, musste etwas Beunruhigendes geschehen sein.

      Da der Knochenhauer Waldemar den Jungen nicht an Kindes Statt angenommen hatte, war aus Jacob nie ein echter Klingenbiel geworden. Er hieß ja nicht einmal Jacob. Den Namen hatte sich der Herr Vater ausgedacht. Seine unbekannte Mutter hätte ihn womöglich lieber anders genannt. Vielleicht Johannes. Johannes wie der Evangelist. Der war immerhin der Lieblingsjünger von Gottes Sohn gewesen.

      Wie der Lieblingsjünger von Gottes Sohn würde Jacob gern heißen. Doch weil Waldemar Klingenbiel das Findelkind am Namenstag des Heiligen aus dem Dreck gezerrt hatte, hieß er eben Jacobus. Jacobus Findling zu allem Überfluss.

      Die Glocke rief die Bürger zusammen, doch Jacob galt der Ruf nicht. Er hatte im Haus seines Ziehvaters das Metzgerhandwerk gelernt und war seit einem Jahr Geselle, und als Geselle genoss er nicht das Bürgerrecht. Weil er nicht adoptiert worden war, konnte er das Bürgerrecht auch nicht erben. Nur wenn es ihm gelang, eine Meisterin zu heiraten, würde er vor dem Rat den Bürgereid ablegen können. Oder wenn er selbst ein Meister wurde. Aber wie sollte ihm das gelingen?

      Natürlich konnte er die Zunftgenossen des Knochenhaueramts um die Eschung ersuchen. Aber vermutlich würden sie ihn eher auslachen, als ihm die Aufnahme in die Zunft zu gewähren. Er hatte weder Geld für den Erwerb des Bürgerrechts noch für Kerzen in der Kirche, für eine Waffe zur Verteidigung der Stadt oder gar für die Meisterköste: Jeder neu aufgenommene Meister musste seinen zechlustigen Amtsbrüdern Essen und Bier ausgeben. Vor allem jedoch konnte Jacob nicht nachweisen, dass er echt und recht geboren sei. Er war ein Findelkind, niemand wusste also, ob er ehelich oder unehelich geboren war, doch die Ämter nahmen nur ehelich Geborene auf. Aber Jacob Findling wollte um keinen Preis länger ein gewöhnlicher Beisasse sein. Er wollte hoch hinaus und war bereit, sogar Klingenbiels jüngste Tochter Magdalena zu ehelichen, die Einzige, die der Vater noch nicht unter die Haube gebracht hatte. Sie war erst zwölf, und sogar die alte Kirche würde eine solche Verbindung geißeln – aber für einen entsprechenden Obolus fand sich immer ein Priester bereit, seinen Segen zu erteilen. Die neue Kirche war nicht so leicht zu kaufen. Jacob verstand nicht viel von solchen Dingen, doch der Vater bekannte sich zu den Martinianern. Und er hatte Magdalena schon einem Sohn des Ratsherrn Heinrich von Alfeld versprochen. Jacob würde sie also nicht heiraten können. Außerdem liebte er Marie. Und die war verheiratet.

      Jacob überquerte den Andreaskirchhof und erreichte, bis auf die Haut durchnässt, das Haus Blauer Schwan, in dem er seit beinahe zwanzig Jahren lebte. Er war hier glücklich gewesen, denn Klingenbiel hatte ihn nicht schlechter behandelt als seine leiblichen Kinder. Dafür liebte er den Mann, den er Vater nannte. Er war ihm sehr dankbar dafür, dass er ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht hatte. Das hatte der Vater selbst getan, er hatte das Findelkind nicht auf eine Schule geschickt. Und Jacob war ein gelehriger Schüler gewesen, nicht weil er gern lernte, sondern aus Dankbarkeit.

      Als Jacob die Diele des Hauses betrat, traf er auf den Hausknecht Matthias, der Klingenbiel schon seit sehr langer Zeit diente. Er war alt geworden bei dem Meister, versah seine Arbeit aber noch immer so, wie es von ihm erwartet wurde.

      »Na, Geselle?«, fragte er und feixte. Matthias war damit beschäftigt, einen Sack Gerstenmalz durch die Diele zu wuchten. Oftmals grinste er, wenn er Findling sah, belächelte oder verspottete ihn sogar. »Wieder mit anderen Gesellen beim Bier gesessen und sich die Köpfe heiß geredet über diesen Mönch und seine Schriften, die ihr doch sowieso nicht versteht?«

      »Du etwa? Verstehst du sie?«, fragte Jacob; er wusste schließlich, dass der Knecht nicht einmal lesen konnte. Aber Matthias hatte Recht: Viele der oftmals aufmüpfigen Gesellen hatten

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