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weiß ich, warum Mum vor vier Jahren spurlos verschwunden ist und warum Hunter die Kristallisierer mit jeder Faser seines Körpers hasst – ganz besonders meinen Vater. Wer könnte es ihm verdenken? Jeder würde den Mörder seiner Mutter hassen. Mörder. Das Wort fühlt sich nicht richtig an in Verbindung mit dem Mann, der mich aufgezogen hat. Aber der Schmerz, den ich im Mondlicht in Hunters Augen gesehen habe, lässt keinen Zweifel zu. Mörder.

      Neben mir beginnt Hunter, sich zu regen. Ich beuge mich vor und drücke meine Lippen auf seine. Nur kurz und nicht halb so leidenschaftlich wie gestern, denn mit der Helligkeit bahnt sich die kalte Realität ihren Weg zurück in mein Herz. Das hier ist ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachen werde. Ich blicke hinaus auf das wütende Meer, das in der Nacht noch friedlich an den Strand plätscherte, und spüre den rauen Wind in meinem Gesicht. Wir haben es bis hierher geschafft. Aber alles, was wir erreicht haben, ist wertlos, wenn wir unsere Aufgabe jetzt nicht zu Ende bringen. In meiner Jackentasche schließen sich meine Finger fest um das kühle Metall des Diktiergeräts, das Luce mir im Zentrum gegeben hat. Da sind sie, die beiden kleinen runden Knöpfe. Aufnahme, Wiedergabe. Mein Finger drückt auf Play.

      »Wir schwören der Kristallisierung Treue.« Chloe Cremontes Stimme ist trotz des Sturms, der sich über uns zusammenbraut, deutlich zu verstehen. Hell und scharf wie Glas. »Wir verpflichten uns, vor keinem Hindernis zurückzuschrecken, um den Menschen zu seiner Natur zurückzuführen. Für ein Leben in Klarheit!«

      Ich bemerke erst, dass meine Hand sich zur Faust geballt hat, als Hunter sich streckt und das Diktiergerät behutsam aus meinen Fingern löst. Chloe Cremontes Worte werden vom Wind davongetragen.

      »Sie war einmal wie wir. Sie wollte etwas verändern, diese Welt zu einem besseren Ort machen!« Ich höre selbst die Wut in meiner Stimme. Leiser füge ich hinzu, was mich seit gestern Nacht nicht mehr loslässt: »Ich kann einfach nicht glauben, dass hinter all den Ideen von der gläsernen Gesellschaft ohne Diskriminierung, von Klarheit durch Traits – dass dahinter die ganze Zeit in Wahrheit ReNatura gesteckt hat. Sieht sie denn nicht, dass das Programm Frauen erst zu Emotionalen und dann zu Rechtlosen machen wird?«

      »Wir reden von der Frau, die, ohne zu zögern, die Karriere ihrer eigenen Mutter beendet hat«, sagt Hunter hart. »Chloe Cremonte würde für ihren Platz im Weißen Haus alles und jeden opfern.«

      »Ich habe mir immer vorgestellt, dass es schwer für sie gewesen sein muss damals …«

      »Schwer?« Hunter lacht bitter. »Skye, der große Skandal war für Chloe ein gefundenes Fressen.«

      Ich denke an den Tag, als die Ministerin Jessica Cremonte ihre Tochter Chloe in den Händen von Entführern glaubte und den fatalen Befehl gab, sie mit allen Mitteln zu befreien. Am Ende waren unzählige junge Menschen tot, unter ihnen auch Chloes kleine Schwester. Und ihre Mutter war eine gebrochene Frau. »Wie meinst du das?«, frage ich leise. »Sie hatte doch so viel verloren!«

      Hunter wirft mir einen langen Blick zu. »Noch am selben Tag, an dem ihre Mutter ins Exil flog, hat Chloe uns zu einer verdammten Feier eingeladen.«

      »Uns?« Ich muss so verblüfft aussehen, wie ich mich fühle.

      »Ja, uns.« Hunter seufzt. »Meine Eltern, um genau zu sein, und eine Reihe anderer Unterstützer der ersten Stunde. Sie haben auf die Traits angestoßen. Und ich schwöre dir, dass Chloe ihrer Mutter keine Träne nachgeweint hat.«

      »Deine Eltern waren Kristallisierungsanhänger?« Der Gedanke will einfach nicht bei mir ankommen.

      »Mein Vater vor allem.« Hunters Kiefer spannt sich an. »Bevor Dad bei der Times anfing, hat er Journalistik-Kurse an der Long Island Universität gegeben. Zur gleichen Zeit studierte Chloe dort Politikwissenschaft. Sie gründete eine Hochschulgruppe, eine Art politischen Debattierclub. Dad ging zu einem der Treffen und war von den Themen begeistert. Damit begann ihre Freundschaft.« Hunter schüttelt verächtlich den Kopf.

      »Warum hast du mir das nie erzählt?«, frage ich.

      Er schaut mich verlegen an. »Vielleicht, weil ich diese Vergangenheit meiner Eltern gern ausblende. Aber immerhin hat zumindest Mum noch rechtzeitig erkannt, dass sie auf der falschen Seite stand.«

      »Und dein Dad?«

      Hunter zuckt die Schultern und starrt aufs Meer hinaus. Wir schweigen. Ich wünschte, er würde nicht immer diese Mauern um sich hochziehen. Ich wünschte, er würde mir vertrauen.

      Vorsichtig frage ich: »Also waren sie zu Beginn beide in diesem … Debattierclub?«

      Er nickt. »Dad ging regelmäßiger zu den Treffen als Mum, aber sie waren beide Mitglieder. Als die Gruppe wuchs, organisierte Chloe Klimastreiks und fuhr nach Washington, um dort gegen Waffengewalt zu protestieren.«

      Ich versuche, mir die kühle Chloe Cremonte als leidenschaftliche Demonstrantin vorzustellen, doch es gelingt mir nicht. »Wie konnte aus einer idealistischen Hochschulgruppe eine diktatorische Partei werden?« Wann ist alles aus dem Ruder gelaufen?

      »Macht«, antwortet Hunter grimmig. »Macht verändert Menschen. Aber die Kristallisierer werden mit diesem Wahnsinn nicht durchkommen.« Er schiebt das Diktiergerät zurück in die Innentasche meiner Jacke, zu McCartys Bericht über den medizinischen Hintergrund von ReNatura, den ich aus dem geheimen Labor des Zentrums gestohlen habe. Dann steht er auf und streckt mir die Hand hin. »Von hier aus ist es nicht mehr weit bis in die Seaview Hills. Wenn außer uns beiden noch irgendjemand von diesen Plänen erfahren soll, dann –« Er braucht nicht auszusprechen, was wir beide wissen: Dann müssen wir Angelas Wohnung finden, bevor wir gefunden werden. Von dort aus können wir die Welt über ReNatura aufklären. Von dort aus werden wir das perfide Geheimprogramm der Regierung zerstören.

      Der Wind treibt das Meer über den Strand, während wir uns Hand in Hand auf den Weg machen. Sandkörner prickeln gegen unsere Arme und Gesichter wie tausend winzige Nadelstiche. Eine Böe fährt durch die Palmwedel über uns und mein Herz schlägt schneller, als ich einen Moment lang glaube, Sirenen in der Ferne zu hören. Obwohl es Unsinn ist. Die schwarzen Transporter der Kristallisierer haben keine Sirenen. Ich versuche, mich zu beruhigen, doch es gelingt mir nicht. Wenn sie uns aufspüren, dann sind wir verloren. Genau wie die klugen und mutigen Mädchen, die mir im Zentrum so ans Herz gewachsen sind. Mit einem Kloß im Hals denke ich an Luce, Fiona, Maxeni und all die anderen, die sich der Kristallisierung nicht beugen wollen. Ganz besonders an Luce. Ich berühre ihre Kette, die geschliffene Glasscherbe, die an einem Lederband um meinem Hals hängt, und wiederhole stumm das Versprechen, das ich gestern Nacht in Schlafsaal 4 gegeben habe, bevor ich mich mit dem Diktiergerät in der Hand auf die Jagd nach der Wahrheit machte. Ich bringe die Kette zu Luce zurück. Zu Luce, die ihre Freiheit für die dieses Landes gegeben hat … Wo bist du jetzt?, denke ich. Was machen sie mit dir?

      »Sieht aus, als wären wir fast da«, ruft Hunter gegen den Wind an.

      Ich folge seinem Blick. In einiger Entfernung erkenne ich eine Promenade mit den üblichen Cafés und Strandläden, in denen man Plastikschaufeln und Sonnencreme kaufen kann. Ich streiche über meinen weißen Faltenrock, der mittlerweile klamm und voller Flecken ist. Erst jetzt wird mir klar, was für ein Bild wir beide abgeben müssen. Am liebsten hätte ich die verhasste Zentrums-Uniform gestern Nacht zusammen mit meinem Check im Meer versenkt, aber ich kann schlecht in Unterwäsche bei dieser Angela aufkreuzen.

      Wenig später klettern wir über eine kniehohe Mauer auf die asphaltierte Promenade, und Hunter kauft einem Bäcker, der gerade seine Ladentür aufschließt, zwei Doughnuts ab. Der Mann entdeckt mich vor dem Geschäft, lächelt und zwinkert mir zu. Wahrscheinlich hält er uns für zwei harmlose Teenager, die sich für eine Nacht von zu Hause weggeschlichen haben. Immerhin haben mir die Ereignisse der letzten Stunden das Wort Verräterin also noch nicht auf die Stirn geschrieben. Hunter zieht mich mit der Papiertüte in der Hand in einen Hauseingang, wo wir vor dem Wind geschützt sind.

      »Willst du Schokolade oder Streusel?«, fragt er und hält mir die offene Tüte entgegen.

      »Schokolade.«

      Mein Überlebensinstinkt sorgt dafür,

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