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weil beide Angst davor hatten.

      Am Morgen darauf saßen sie einander am Küchentisch gegenüber. Er legte den Zeigefinger auf ihre Nasenspitze.

      „Sehr munter schaust du aber nicht drein.“

      „Kopfweh. Punsch und Glühwein vertragen sich nicht.“

      „Mir geht es nicht viel besser. Ich habe gestern noch den Rest getrunken. Man schüttet so etwas Gutes ja nicht einfach weg.“

      „Mein Held!“

      „Wie auch immer: gemeinsames Kopfweh verbindet. Übrigens hat es geschneit, die Nacht über. Da leben alte Bilder auf.“

      „Woran denkst du?“

      „An zwei Kinder, die wir einmal waren.“

      „Oh ja, du als winziger Winterkönig. Stolz, mächtig und unnahbar in deiner Schneeburg.“

      „Doch dann ist ein kleines Mädchen herangestürmt, in schimmernder Wehr, mit ihm das Heer der Schneeflocken. Du hast mich lachend vom Thron gestoßen und in mein eigenes Verlies geworfen.“

      „Aber es war schrecklich langweilig, so ganz allein auf diesem harten, eisigen Thron. Darum bin ich zu dir in den tiefen Kerker gezogen. Finster war’s da unten, eng und sehr gemütlich.“

      „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schmachten sie noch heute.“

      „Falsch, mein Lieber. Wir sitzen in der Küche. Harmlos, aber auch ganz nett. Es ist bald Mittagszeit. Soll ich was kochen für uns?“

      „Du? Entschuldige, schon ...?“

      „Im Kühlschrank liegt Gänsebrust, sous-vide gegart, fertig in zehn Minuten. Und am Rotkraut sollte es nicht scheitern. Mit vorweihnachtlichen Apfelstückchen.“

      „Tiefgekühlt.“

      „Was sonst?“

      „Nein danke.“

      „Oder eine winterliche Festtagsuppe? Mit allen nur denkbaren guten Sachen drin.“

      „Aus der Dose.“

      „Ah ja, der Herr will etwas Besonderes. Alles auf Lager! Trilogie von Ochs, Esel und Schaf aus dem Stall zu Bethlehem. Goldige Engelsbrüstchen an Weihrauch und Myrrhe, Teufelsbraten mit Chili und Schwefel ...“

      „Ich geh dann zum Wirt ums Eck. Montag hat er immer Beuschl. Kommst du mit?“

      „Dein Wirt gehört dir ganz allein. Und du darfst ihn behalten.“

      Als er nach Hause kam, wohlig satt und müde, weil er dann doch ein zweites Bier getrunken hatte, war sie nicht da. „Was immer sie tut, es sei ihr gegönnt“, hörte er sich sagen, rückte sich seine Welt zurecht und ließ es gut sein. Beiläufig nahm er wahr, dass es Abend wurde und Nacht.

      Wo sie nur blieb? Na ja. Bertis Punschhütte vermutlich. Weiß der Teufel, was ihr daran gefiel und was die Leute dort redeten, miteinander und nebeneinander her.

      Er hatte sie einmal danach gefragt, als sie spätnachts nach Hause kam, merkwürdig leichtgewichtig, von Frohsinn erfüllt. Ihre Antwort war damals eine Wolke aus Bildern, Tönen und Farben gewesen, ein Gespinst, das ihn einhüllte, ein paar sehr süße Tropfen auf sein Gesicht fallen ließ und sich auflöste. Nichts blieb.

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      In dieser Nacht wollte er nichts von alldem wissen. Doch weil er schon einmal wach war, wartete er auf ein Geräusch an der Tür, wartete verdrossen und vergeblich. Er fand es einfach ungehörig, so lange wegzubleiben. Aber vielleicht tat er ihr Unrecht, hatte nur nicht richtig hingehört, und sie war schon da und schlief. Doch die Tür zu ihrem Zimmer stand offen und das Bett war leer. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen, hatte nicht stören wollen. Jetzt spürte er Nähe, die ihm nicht vertraut war, unbehaglich und verwirrend. Als er sich abwandte, sprang ihm die Angst in den Rücken und fuhr ihm in die Gedanken.

      Dann, vor der Haustür, schaute er ratlos fragend der Nacht ins Gesicht. Es schneite nicht mehr, war wärmer geworden, und dieser verdammte Winter roch nach Frühling. Er wusste nicht viel von ihren Ausflügen in die Stadt. Die Konditorei, von der sie erzählt hatte, schaute ihm dunkel und abweisend entgegen, die Buden des Weihnachtsmarktes hockten da wie eine Herde schlafender Tiere, und vor Bertis Punschhütte wartete ein großer, prall gefüllter Plastiksack auf die Müllabfuhr. Blieb der Stadtpark, noch dunkler als die leeren Straßen und Plätze ringsum. Nur vereinzelt brannten Laternen gelbe Löcher ins Schwarz, holten einsame Parkbänke ins Licht. Es gab keine Obdachlosen in der kleinen Stadt, weil es sie nicht geben durfte, das war man sich schuldig. Aber es gab in dieser Nacht eine, die hier wohnte, weil es anderswo auch nicht besser war. Sie saß da, viele Einkaufstaschen ringsum, und hielt den Kopf gesenkt.

      Erst lief er auf sie zu, trat dann behutsam näher. Sie erschrak aber doch. „Um Himmels willen, du auch noch!“

      „Was ist so schlimm an mir?“

      „Nichts. Rein gar nichts.“

      „In anderen Worten: so ziemlich alles.“

      Sie schaute ihn an, mit einem ganz kleinen Gelächter in den Augen.

      Er hörte geduldig ihrem Schweigen zu. Dann legte er seine Stirn an die ihre. „Tu das nie wieder. Versprochen?“

      „Ich hab’s nicht getan. Es ist geschehen.“

      „Ah ja. Und wie?“

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      „Ich war einkaufen.“

      „Was denn?“

      „Nichts und zu viel von allem. Und ich weiß nicht mehr wohin damit. Die Besenkammer ist voll, Keller und Dachboden sind voll, das Haus ist voll, meine ganze Welt ist voll. Nur ich bin leer.“

      „Und ich hab nichts davon bemerkt ...“

      „Nicht deine Schuld!“

      „Oder doch. Kommst du jetzt mit nach Hause?“

      „Nach Hause? Wo soll das sein?“

      „Bei mir.“

      „Woher willst du das wissen?“

      „Wissen? Nein. Aber darf ich mir was wünschen?“

      „Du traust dich was.“

      „Nicht wahr? Komm, wir gehen. Und ich trag auch ein paar Einkaufstaschen.“

      Die beiden redeten wenig miteinander, weil sie nichts Falsches sagen wollten. Aber sie gingen gemeinsam durch die Stadt. Das war schon was. Und dann noch zur nächtlichen Stunde, während sich brave Bürger wüsten Träumen hingaben, für die sie ja schließlich nichts konnten.

      Später saßen die zwei in der Küche, sahen die Nacht vor dem Fenster grau werden, und tranken Tee.

      Er lächelte schütter. „Schön, diese Niemandszeit. Und sie gehört uns.“

      „Ja, irgendwie. Sehr müde bin ich. Und hellwach. Sag: Wie geht es denn so zu, in deiner runden, reichen Welt?“

      „Seltsam genug. Ich habe alles, viel mehr noch. Aber es reicht nicht für zwei.“

      „Warum?“

      „Die Angst, etwas hergeben zu müssen. Reichtum macht geizig.“

      „Und ich habe nichts, aber zu viel davon, weil es nie genug sein kann.“

      „Hat früher wenig bedeutet, nicht wahr? Da war nur eine Handbreit Ungeduld zwischen uns. Aber mit den Jahren ... Andererseits: Bald einmal ist Weihnachten, und da fallen die Wunder geradezu haufenweise vom Himmel.“

      „Ich stelle mir lieber vor, wie sie die Flügel schlagen und auffliegen.“

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