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Kafir. Amed Sherwan
Читать онлайн.Название Kafir
Год выпуска 0
isbn 9783960542391
Автор произведения Amed Sherwan
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
»Der Tarnanzug stand dir doch ganz gut«, grinse ich.
Er schüttelt den Kopf und wirft einen kleinen Zweig ins Wasser. Wir schauen zu, wie er dahintreibt. »Ich war naiv. Ich wusste nach dem Abitur nicht genau, was ich werden sollte, und dachte, dass ich mich beim Militär selber finde. Aber ich habe mich beinahe verloren. Und nun sitze ich hier nutzlos rum. Manchmal träume ich, dass alles nur ein Albtraum war. In meinem Traum wache ich auf und bin in meinem hellen Zimmer im Haus meiner Eltern. Ich gehe ans Fenster und schaue im Morgenlicht über die schöne Stadt. Und ich lache, weil ich alles nur geträumt habe. Und davon wache ich dann wirklich auf und starre an die dunkle Decke meiner düsteren Wohnung.« Er inhaliert und guckt traurig über das Meer.
»Bereust du deine Flucht?«, frage ich ihn.
»Nein, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«
»Ich bin froh, dass du geflüchtet bist«, sage ich. »Zusammen sitzt es sich viel schöner nutzlos rum als allein.«
DIE PRÜFUNG
Am Tag meiner Einschulung spiegelte ich mich in den Fenstern aller Autos, an denen wir auf dem Weg zur Schule vorbeikamen. Ich war stolz auf mein weißes Hemd und die graue Hose meiner Schuluniform. Ich entdeckte erst einige Monate später, dass die Farben sehr unpraktisch waren.
»Warum hast du Schuhabdrücke auf deiner Hose und deinem Hemd?«
Meine Mutter sah mich ernst an, als ich von der Schule kam.
»Wir haben gespielt«, antwortete ich und wollte an ihr vorbeigehen.
»Beim Spielen kriegt man doch keine Fußabdrücke auf die Kleidung.«
Im Islamunterricht war ich der Klassenbeste. Auch die Buchstaben lernte ich schnell. Ich war wissbegierig und neugierig und oft platzte mir die Antwort auf eine Frage der Lehrer einfach raus. Trotzdem war ich das Gespött der Klasse. Das Rumsitzen langweilte mich. Ich kippelte oft mit dem Stuhl, manchmal fielen meine Schulhefte dann runter. Wenn ich sie aufheben wollte, entdeckte ich etwas Interessantes unter dem Tisch. Und wenn meine Lehrer mich dann etwas fragten, wusste ich oft nicht mehr, worum es gerade ging. Dann kicherten die anderen über mich.
Und in den Pausen lauerten sie mir auf. Sie ärgerten mich damit, dass ich eine Fehlstellung der Beine hatte und wie ein Pinguin mit den Füßen zu den Seiten ging. Sie lachten, wenn sie mich über den Schulhof trieben, denn beim Laufen sah es noch lustiger aus. Sie mussten mir meistens nicht mal ein Bein stellen. Ich fiel ganz von alleine hin und dann traten sie auf mich ein, bis meine große Schwester es sah und dazwischenging.
»Es wäre einfacher, wenn ich schneller laufen könnte«, sagte ich und guckte auf meine Füße.
»Gott hat sich etwas dabei gedacht«, sagte meine Mutter. »Gott prüft dich, du musst geduldig sein. Erinnere dich an den Propheten Ayyūb, der jede Prüfung ertrug und dafür von Gott belohnt wurde.«
Ich nickte und ging ins Haus. Ja, Gott hatte mich halt so geschaffen. Aber ich konnte nicht verstehen, was sein Plan damit war.
Ich versuchte immer, mich zu konzentrieren. Aber meine Augen, Ohren und Gedanken machten, was sie wollten. Ich bemühte mich auch, die Füße geradezubiegen, bekam sie aber genauso wenig in den Griff. Manchmal ging ich abends allein raus und übte Fußballspielen, aber ich kriegte weder meine Aufmerksamkeit noch die Füße auf den Ball gerichtet. Er flog in alle Richtungen, doch nie dorthin, wo er sollte.
In meiner Freizeit ging ich daher lieber in die Moschee als zum Ballspiel. Und als wir in den Schulferien die Möglichkeit bekamen, uns für Ferienkurse anzumelden, wählte ich ganz selbstverständlich lieber die Koranschule als den Sportkurs und kam am Ende der Ferien stolz mit meinem Zertifikat nach Hause: »Zor basha, sehr gut!«
Während der Schulzeit war der schulfreie Freitag mein Lieblingstag. Ich achtete genau auf die Uhrzeit, und sobald die Abfahrtzeit sich näherte, rannte ich aufgeregt durch das Haus und erinnerte meinen Vater und meine Brüder daran, dass sie sich für das Gebet fertig machen sollten. Meine Brüder hatten oft keine Lust mitzukommen, ich aber ließ kein Freitagsgebet in der Moschee ausfallen.
Manchmal freute ich mich so sehr darauf, dass ich mich nicht zurückhalten konnte und auf dem Weg zur Moschee laut aus dem Auto rief und Leute dazu anhielt, uns zu folgen.
In der Moschee angekommen, zog ich die Schuhe aus und stellte sie ins Regal, wusch mich gewissenhaft, betrat den Gebetsraum und stellte mich neben die Männer in die Reihe. Während des Gebets konnten meine Gedanken fliegen, wohin sie wollten, und meine Füße dahin zeigen, wohin es ihnen passte.
Niemand lachte über mich. Und der Imam mochte und lobte mich. Hier gehörte ich dazu. Denn vor Gott waren wir alle gleich.
DER URIN
»Meine alte Heimat riecht nach Benzin, meine neue nach Urin«, sage ich und reiche meinem Freund, dem Computerfachmann, und meiner Freundin jeweils ein Bier.
Das Kneipenkollektiv hat die Schicht ausfallen lassen. Deshalb haben wir unser Bier im Kiosk gegenüber gekauft und stehen damit nun vor einem leerstehenden Supermarkt.
»Wir sind in der Gosse gelandet«, stellt der Computerfachmann fest und legt einen kleinen Stepptanz hin.
»Das ist ein Zeichen«, sagt meine Freundin. Er fragt sie, wofür das ein Zeichen sein soll.
»Dafür, dass wir es uns lieber auf dem Sofa bequem machen sollten.«
Es stinkt wirklich erbärmlich hier. Aber so ist es halt, wenn weit und breit keine öffentliche Toilette in Sicht ist. In Irakisch-Kurdistan ist an jeder Ecke eine Moschee mit Waschgelegenheit und Klo. Aber vermutlich gibt es in jedem anderen Land mehr öffentliche Toiletten als in Deutschland.
»Ob die Überwachungskamera wohl noch aufzeichnet?«, fragt der Computerfachmann und zeigt auf ein Gerät oben am verrammelten Eingang.
»Das ist mir wurscht«, entgegne ich und baue einen Joint direkt vor der Kamera.
»Du hast echt einen Sockenschuss«, meckert meine Freundin.
Mein deutscher Wortschatz besteht aus einer eigentümlichen Mischung aus komplizierten Fachbegriffen und seltsamen Schimpfwörtern. Das passiert, wenn man sein Deutsch von angetrunkenen Linksintellektuellen lernt.
»Sockenschuss ist kein schönes Wort«, entgegne ich und reiche dem Computerfachmann den Joint.
Meine Freundin stapft derweil missmutig in Richtung Innenstadt. Wir gehen ihr nach und stehen in wenigen Minuten in der Fußgängerzone. Hewlêr hat etwa zehn Mal so viele Einwohner wie das Provinzkaff, in dem ich am Ende meiner Flucht gelandet bin. Man ist hier irgendwie immer im Zentrum.
»Ich gehe nach Hause«, meine Freundin dreht sich um und schaut mich an. »Kommst du mit?«
»Hey, so kenne ich dich ja gar nicht!« Wie so oft rettet der Computerfachmann die Situation. »Lass uns tanzen gehen.« Er hakt sie unter und schleift sie durch eine kleine Seitenstraße in Richtung unserer Lieblingsbar.
Wir manövrieren uns durch den überfüllten Eingangsbereich vor der Theke nach hinten. Unterwegs bleiben die beiden auf der Tanzfläche hängen und hüpfen begeistert los.
Ich schlendere weiter zum Kicker und plaudere auf Arabisch mit einigen der Jungs, die zum festen Inventar gehören.
»Was machst du denn noch hier, Habibi?«, frage ich meinen Kumpel, den Spieler, der seit Wochen davon redet, dass er Deutschland verlassen will.
»Ich gehe nächsten Monat in die Türkei zu meinen Eltern«, sagt er. »Hast du was zu kiffen?«
»Nein, aber willst du ein Bier?«, biete ich ihm an.
»Nein, ich trinke nicht mehr. Das ist harām.«
»Das ist jetzt