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«Hat den Mantel meines Kameraden zerfetzt und mich dermaßen gegen die Wand geschleudert, dass mir beinahe das Hirn aus dem Schädel gefallen wäre. Unsere Fiedel ist auch nur noch ein Haufen Splitter.» Das Instrument sah in der Tat so aus, als ob jemand darauf herumgetrampelt wäre. «Mistress Bell nennt es einen Geist, aber ich sage, es war der Teufel. Ein unsichtbarer Teufel.»

      Sein Zorn schien nicht gespielt zu sein, aber Makepeace wusste trotzdem nicht, ob sie ihm glauben sollte. Alles ist unsichtbar, wenn man im Suff nicht mehr klar sehen kann, dachte sie.

      «Hat es etwas gesagt?» Makepeace erschauerte unwillkürlich, als sie an die geschmolzene Stimme aus ihrem Vielleicht-Traum dachte.

      «Nicht zu uns», sagte der kleinere der beiden. Er streckte die Hand mit dem Becher aus, als die Wirtin mit dem Krug zurückkehrte, und ließ sich nachschenken. «Nachdem es uns wie zwei Sandsäcke gebeutelt hatte, ist es da lang.» Er deutete in Richtung der Sümpfe. «Hat unterwegs noch einen Pfosten umgehauen.»

      Makepeace trank aus und fasste sich ein Herz.

      «Pass auf, wo du hintrittst, Püppchen!», rief ihr die Wirtin nach, als sie sah, dass Makepeace über den Tritt stieg, der zu den Sümpfen führte. «Einige der Wege sehen trocken aus, rutschen dir aber unter den Füßen weg. Wir haben keine Lust, dass uns dein Geist auch noch heimsucht!»

      Das Rascheln und Knirschen von Makepeaces Schritten klang überlaut, als sie hinaus auf das Marschland ging, und sie merkte, dass hier kein einziger Vogel sang. Nur die dürre Musik der Schilfstängel, die aneinanderrieben, und das papierartige Rauschen der vereinzelt stehenden jungen Pappeln, deren Blätter in der Brise graugrün und silbrig schimmerten, begleiteten ihren Weg. Die Stille sickerte bis in ihre Knochen und mit ihr die Angst, dass sie – wieder einmal – einen schrecklichen Fehler machte.

      Sie schaute sich nervös um und erkannte mit einem leichten Schaudern, dass sie sich bereits ein gutes Stück vom Gasthaus entfernt hatte. Sie kam sich wie ein kleines Boot vor, das sich aus der Vertäuung gelöst hatte und hilflos von der Küste wegtrieb.

      Und als sie so dastand, schlug mit einem Mal eine unsichtbare Welle über Makepeace zusammen.

      Ein Gefühl. Nein, ein Geruch. Ein Gestank nach Blut, Herbstwald und alter, feuchter Wolle. Es war ein heißer Geruch. Er juckte und kratzte an ihrem Geist wie ein Atemhauch. Er erfüllte Makepeaces Sinne, vernebelte ihr den Blick und verursachte ihr Übelkeit.

      Geist, das war alles, was sie in ihrer Hilflosigkeit denken konnte. Ein Geist.

      Aber das war ganz anders als jener kalte, tückische Ansturm, den sie bisher von Geistern erlebt hatte. Dieses Wesen hier versuchte nicht, in sie hineinzugelangen – es wusste gar nicht, dass sie da war. Es prallte einfach nur gegen sie, heiß, schrecklich und blind.

      Die Welt verschwamm, und sie wusste kaum noch, wo sie war, wer sie war. Sie wurde von einer Erinnerung verschluckt, die nicht ihr gehörte.

      Die Sonne stach. Der Gestank der Sägespäne ließ sie würgen. Ihre Lippe tat entsetzlich weh, und sie konnte keine Worte formen. In ihren Ohren dröhnte es, und gleichzeitig hörte sie ein grausames, rhythmisches Hämmern. Mit jedem Hammer-schlag riss etwas schmerzhaft an ihrem Mund. Als sie versuchte zurückzuweichen, schoss ihr ein rot glühender Schmerz in die Schultern. Makepeace brannte vor Zorn, der aus Schmerzen und Pein entsprang.

      Die Welle ebbte ab, und Makepeace krümmte sich. Ringsum glühte die Welt immer noch vor gleißendem Sonnenlicht, in ihrem Kopf hämmerte es und die Übelkeit stieg in ihr hoch. Halb blind machte sie einen taumelnden Schritt, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und fühlte stattdessen, wie ihr Fuß auf dem feuchten, unebenen Boden unter ihr wegrutschte. Sie schlitterte vom Weg und landete mit ausgebreiteten Armen im Schilf, wobei sie kaum fühlte, wie die harten Stängel ihr Gesicht und Arme zerkratzten. Dann beugte sie sich vor und erbrach sich, wieder und wieder.

      Schließlich klärte sich der Nebel in ihrem Kopf. Die fremde Qual verschwand. Aber über allem lag ein erstickender Fäulnisgestank. Und ein Summen hörte sie ebenfalls.

      Aber es war anders als eben noch. Aus dem üblen rhythmischen Hämmern war ein insektenartiges Sirren geworden, wie von Dutzenden winziger schlagender Flügel.

      Unsicher kam sie auf die Füße und schob die Schilfstängel beiseite. Dann stieg sie weiter den Abhang nach unten. Mit jedem Schritt wurde der Boden weicher und klebriger. Sie war nicht das einzige Lebewesen, dass hier entlang gegangen war, denn überall lagen zerbrochene Stängel, und in den Schlamm waren Rillen gegraben.

      Und dahinter lag etwas in einer überwucherten Grube, halb verdeckt durch das Schilf. Etwas Dunkles. Etwas, das ungefähr die Größe eines Mannes hatte.

      Makepeace fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie hatte sich geirrt, hatte sich mit allem geirrt. Wenn das da eine Leiche war, dann war der Geist überhaupt nicht Mutter. Vielleicht hatte sie gerade ein Mordopfer entdeckt. Und vielleicht war der Mörder noch in der Nähe und beobachtete sie.

      Oder vielleicht war dies ein Reisender, der von dem wilden Geist niedergestreckt worden war und Hilfe brauchte. Nein, sie konnte nicht weglaufen, obwohl sie es sich mit jeder Faser ihres Körpers wünschte.

      Sie trat näher. Der Schlamm quatschte bei jedem Schritt unter ihren Sohlen. Das Ding war dunkelbraun, groß und hatte die Form eines Hügels. Es war eingehüllt von einer Wolke aus flinken, grünschwarzen Fliegen.

       Ein Mann in einem Wollmantel?

      Nein.

      Die Gestalt wurde deutlicher. Und endlich konnte Makepeace erkennen, was es war und was es nicht war. Einen Augenblick lang war sie erleichtert.

      Dann überkam sie eine gewaltige Woge furchtbarer Traurigkeit, stärker als ihre Angst oder Abscheu, stärker noch als der Gestank. Sie rutschte nach unten und kauerte sich neben den Hügel, wobei sie ihr Taschentuch vor den Mund hielt. Dann strich sie ganz sanft mit der Hand über die klatschnasse dunkle Gestalt.

      Es war kein Leben mehr darin. In dem Schlamm waren Rillen, wo das Wesen versucht hatte, sich aus der Grube zu befreien. Blutige, eitrige Wunden sprachen von brutalen Ketten und Eisen. Sie konnte den Anblick des zerrissenen Mauls kaum ertragen, die klaffende Höhle und das Rinnsal aus dunklem Blut.

      Jetzt wusste sie, dass sie immer noch eine Seele hatte. Und die stand in Flammen.

      Makepeace war über und über mit Schlamm bedeckt und mit Dornen gespickt, als sie wieder in den Hinterhof des Gasthauses trat, aber es war ihr egal. Ein kleiner Holzschemel war das Erste, was ihr in die Quere kam. Sie hob ihn auf und spürte sein Gewicht vor lauter Zorn überhaupt nicht.

      Die beiden wandernden Schausteller hockten in der Ecke und unterhielten sich leise und angeregt. Keiner von beiden achtete auf Makepeace. Oder zumindest so lange nicht, bis sie den Schemel schwang und ihn dem größeren der beiden ins Gesicht schmetterte.

      «Argh! Du verrücktes kleines Luder!» Er starrte sie ungläubig an und griff sich an den blutüberströmten Mund.

      Makepeace gab keine Antwort, sondern schlug ein zweites Mal zu, diesmal in seinen Magen.

      «Lass das! Hast du den Verstand verloren?» Der kleinere Mann packte Makepeaces Schemel. Sie trat ihm mit voller Wucht gegen die Kniescheibe.

      «Ihr habt ihn zum Sterben zurückgelassen!», schrie sie. «Ihr habt ihn geschlagen und gequält und ihn an der Kette gezogen, bis ihr sein Maul ausgerissen habt. Und als er nicht mehr aufrecht stehen konnte, habt ihr ihn in diese Grube geworfen!»

      «Was ist denn in dich gefahren?» Die Wirtin stand jetzt neben Makepeace und hatte in dem Versuch, sie zurückzuhalten, einen starken Arm um sie gelegt. «Wovon redest du denn?»

      «VON DEM BÄREN!», brüllte Makepeace.

      «Ein Bär?», wiederholte Mistress Bell verblüfft und warf den Schaustellern einen Blick zu. «Ach je, ist euer Tanzbär etwa gestorben?»

      «Ja, und wie sollen wir jetzt unseren Lebensunterhalt verdienen? Das sag mir mal einer!», fuhr der kleinere Mann auf. «Dieser Ort hier ist

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