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Schattengeister. Frances Hardinge
Читать онлайн.Название Schattengeister
Год выпуска 0
isbn 9783772541445
Автор произведения Frances Hardinge
Издательство Bookwire
Die lebendigen Wesen, die in der Nacht auf dem Friedhof unterwegs waren, halfen ihr, Ruhe und ihren Verstand zu bewahren. Das Rascheln im Gebüsch, unheimliche, flötende Vogelschreie, die Schatten von Fledermäusen – all das war ihr ein Trost. Sogar ihre Klauen und Zähne waren offen und ehrlich. Lebende und tote Menschen mochten sich unversehens auf einen stürzen, aber diese Wesen lebten einfach ihr grausames, wildes Leben, ohne sich um einen zu scheren. Wenn sie starben, hinterließen sie keine Geister. Wenn eine Maus von einer Katze getötet wurde, wenn einem Huhn der Hals umgedreht oder ein Fisch aus dem Fluss gezogen wurde, dann sah Makepeace, wie die hauchzarten Fäden ihrer Lebensgeister davongeweht wurden wie Morgennebel.
Der Groll, der in Makepeace brodelte, brauchte ein Ventil. Statt sich über die nächtlichen Ausflüge zu beklagen, stritt Makepeace mit ihrer Mutter über andere Dinge, widersetzte sich ihr und stellte verbotene Fragen, wie sie es nie zuvor getan hatte.
Insbesondere fragte sie nach ihrem Vater. Bislang hatte Mutter ein solches Ansinnen stets mit einem Blick abgeschmettert und Makepeace hatte sich stets mit den kleinen Details zufriedengegeben, die ihre Mutter unabsichtlich preisgab. Er lebte weit weg in einem alten Haus. Er wollte Mutter und Makepeace nicht bei sich haben. Plötzlich reichte ihr das nicht mehr, und sie war wütend auf sich, dass sie früher zu viel Angst gehabt hatte, um auf Antworten zu bestehen.
«Warum willst du mir seinen Namen nicht sagen? Wo lebt er? Weiß er, wo wir sind? Woher weißt du, dass er uns nicht haben will? Kennt er mich überhaupt?»
Mutter beantwortete diese Fragen nicht, aber ihre wilden Blicke schüchterten Makepeace nicht länger ein. Keine von beiden wusste, was sie mit der anderen anfangen sollte. Seit Makepeaces Geburt hatte Mutter immer alle Entscheidungen getroffen und Makepeace war ihr in allem gefolgt. Makepeace wusste selbst nicht, warum sie nicht länger stillhalten konnte. Margaret dagegen hatte nie lernen müssen, Kompromisse zu schließen, und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Wenn sie Makepeace mit der Wucht ihrer Persönlichkeit in die Knie zwang, würde doch gewiss wieder alles so werden wie früher, nicht wahr? Nein, würde es nicht. Alles hatte sich verändert.
Und dann, zwei Jahre nach ihrem ersten «Stockspitzen», kehrte Makepeace von einer besonders schlimmen, schlaflosen Nacht in der Kapelle heim. Sie zitterte am ganzen Leib. Ein paar Tage danach brannte sich das Fieber durch ihren Körper, und jeder Muskel in ihrem Leib tat ihr weh. Zwei Wochen später war ihre Zunge fleckig und Pockenpusteln blühten auf ihrem Gesicht.
Die Welt war heiß und schrecklich, und Makepeace ertrank in einer erstickenden, abgrundtiefen Angst. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich sterben würde, und sie wusste, was aus toten Wesen wurde. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht schon tot war. Aber die schwarze Flut der Krankheit zog sich allmählich zurück und ließ sie am Leben. Übrig blieben nur ein, zwei kleine Pockennarben auf einer Wange. Jedes Mal, wenn sie ihr Spiegelbild im Wassereimer sah, spürte sie einen kleinen, angstvollen Stich im Magen und stellte sich vor, wie der Tod mit zwei Knochenfingern nach ihrem Gesicht gegriffen und dann langsam die Hand wieder weggezogen hatte.
Nachdem sie sich erholt hatte, vergingen drei Monate, ohne dass Mutter den Friedhof erwähnte. Makepeace nahm an, dass die Pocken ihre Mutter schließlich zu der Einsicht gebracht hatten, dieses Projekt aufzugeben.
Unglücklicherweise irrte sie sich.
KAPITEL 2
An einem angenehmen, sonnigen Tag im Mai machten sich Makepeace und Mutter auf den Weg in die Stadt, um Mutters Klöppelarbeiten zu verkaufen. Der Frühling war mild, aber in London brodelte und knisterte es wie bei einem Gewitter. Makepeace wünschte sich weit weg.
Nicht nur Makepeace hatte sich verändert und war zorniger geworden, das Gleiche galt auch für Poplar und London. Und wenn man dem Geschwätz der jungen Lehrburschen glauben wollte, war es überall im ganzen Land so.
In den Gebetsstunden hatte Nanny Susan mit ihrer roten Nase schon immer Visionen vom Ende der Welt zum Besten gegeben – ein Meer, rot von Blut, und das mit der Sonne bekleidete Weib aus der Bibel, das durch die High Street von Poplar ging. Aber jetzt redeten auch andere auf die gleiche Art und Weise. Es wurde gesagt, dass vor ein paar Jahren während eines Sommersturms die Wolkenberge die Gestalt von zwei mächtigen Armeen angenommen hatten. Und jetzt herrschte die düstere Vorahnung, dass tatsächlich zwei feindliche Armeen aufgestellt wurden.
Die Leute von Poplar waren seit jeher inbrünstig dem Gebet zugetan gewesen, aber jetzt beteten sie wie ein belagertes Volk. Alle hatten das Gefühl von einer Bedrohung, die das ganze Land zu überrollen drohte.
Makepeace konnte sich nicht alle Einzelheiten merken, aber sie begriff das Wesentliche. Die intriganten, teuflischen Katholiken wollten König Charles verführen und ihn zur Abkehr von seinem Volk bewegen. Die braven Männer des Parlaments versuchten, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er hörte nicht länger auf sie.
Niemand wollte dem König direkt die Schuld geben. Das war Hochverrat und man lief Gefahr, dass einem die Ohren abgeschnitten wurden oder man ein Brandeisen ins Gesicht gedrückt bekam. Nein, alle waren sich darüber einig, dass der Ratgeber des Königs, Erzbischof Laud, «Black Tom Tyrant» genannt (auch bekannt als der Earl of Stafford), der wahre Schuldige war – und natürlich die üble Königin Mary, die den Geist des Königs mit ihrer französischen Tücke vernebelte.
Wenn niemand sie aufhielt, dann würden sie aus dem König einen blutigen Tyrannen machen. Er würde sich dem falschen Glauben zuwenden und seine Soldaten ausschicken, um alle loyalen, gottesfürchtigen Protestanten im Land zu töten. Der Teufel selbst war aus der Hölle gekommen, flüsterte in Ohren, verwirrte Gemüter und leitete die Taten der Menschen mit Hinterlist und Tücke. Es war ein Wunder, dass man nirgends versengte Spuren seiner Bocksfüße auf der Straße sah.
Die Angst und der Zorn in Poplar waren unübersehbar, aber Makepeace spürte darunter auch eine heftige Erregung. Wenn die Welt auseinanderbrach, wenn den Menschen harte Prüfungen bevorstanden, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts nahte, dann waren die Gläubigen von Poplar dafür gerüstet. Sie waren Soldaten des Herrn; sie würden widerstehen, predigen und marschieren.
Und als sie jetzt durch die Straßen von London ging, empfand Makepeace wieder dieses erregte Kribbeln in der Luft, die gleiche Bedrohung.
«Hier riecht es komisch», sagte sie. Mutter war wieder Mutter, also konnte sie es wagen, ihre unfertigen Gedanken zu äußern.
«Das ist nur der Rauch», sagte Mutter kurz angebunden.
«Nein, das stimmt nicht», sagte Makepeace. Es war nicht direkt ein Geruch, und sie wusste, dass Mutter genau verstand, was sie meinte. Es war eine Warnung, eine Vorahnung, wie die Ruhe vor dem Sturm. «Es riecht nach Metall. Können wir heimgehen?»
«Ja», sagte Mutter trocken. «Wir können heimgehen und Steine essen, weil du ja nicht willst, dass wir uns unser Brot verdienen.» Unbeirrt ging sie weiter.
Makepeace fand London bedrückend. Hier gab es zu viele Menschen, zu viele Gebäude, zu viele Gerüche. Aber heute lag ein neues Brausen und Brodeln in der Luft. Warum war sie noch nervöser als sonst? Was war anders? Sie schaute von einer Seite zur anderen und bemerkte die vielen neuen Plakate an den Türen und Pfosten.
«Was ist das?», fragte sie flüsternd, aber es war eine müßige Frage. Mutter konnte genauso wenig lesen wie Makepeace. Die breiten schwarzen Buchstaben sahen aus, als würden sie schreien.
«Brüllende Tintentiger», sagte Mutter. London wurde überschwemmt von aufrührerischen Pamphleten, gedruckten Predigten, Prophezeiungen und Beschuldigungen, von denen einige an den König und andere an das Parlament gerichtet waren. Mutter nannte sie immer scherzhaft «Tintentiger», die brüllten, aber nicht zubissen.
In