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Schattengeister. Frances Hardinge
Читать онлайн.Название Schattengeister
Год выпуска 0
isbn 9783772541445
Автор произведения Frances Hardinge
Издательство Bookwire
Aber hier in Grizehayes war es ebenso glasklar für alle Menschen, dass ein machtgieriges Parlament, angeführt von wahnsinnigen Puritanern, dem rechtmäßigen König die Krone zu stehlen versuchte. Keine Seite schien dumm zu sein, und beide waren sich ihrer Sache sicher.
Wurde ich von Puritanern aufgezogen? Damals habe ich geglaubt, was sie glaubten. Waren wir alle wahnsinnig? Oder war ich damals auf der richtigen Seite und bin jetzt verrückt?
«Aber das sind Nachrichten, die die Herrschaften in einem Brief hätten schicken können!», sagte Mistress Gotely. «Warum sind sie denn höchstpersönlich gekommen, und noch dazu so plötzlich?»
«Sie wollten etwas nach Hause bringen», sagte der Kutscher mit geheimnisvoller Miene. «Ich habe es nur eine Sekunde lang gesehen, aber es sah aus wie ein Schriftstück mit einem Siegel so groß wie meine Handfläche.» Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, obwohl ihm ein Dutzend Ohrenpaare aufmerksam lauschten. «Wenn ihr mich fragt, war es das Siegel des Königs.»
«Es ist eine Royal Charta», erklärte James Makepeace später an diesem Tag, als sie unter vier Augen miteinander sprechen konnten. «Ich habe es von Master Symond erfahren.»
«Bist du mit Master Symond befreundet?», fragte Makepeace überrascht.
Sie hatte nur einen kurzen Blick auf Symond geworfen, als er im Hof von seiner edlen grauen Stute stieg. Er war erst etwa neunzehn Jahre alt, aber prunkvoll gekleidet in Spitze und himmelblauen Samt. Mit seinem eisblonden Haar und der höfisch eleganten Haltung wirkte er wie eine seltene Kostbarkeit, wie die Schwäne aus Zuckerguss, die Mistress Gotely manchmal für wichtige Gäste herstellte. Er hatte weiche, angenehme Züge und sah ganz anders aus als Sir Thomas, abgesehen von dem kleinen Grübchen in seinem Kinn.
Um die Wahrheit zu sagen, war Makepeace ziemlich beeindruckt, dass James mit einem solch exotischen Geschöpf auf vertrautem Fuß stand. Sie merkte, wie James sich aufplusterte und ihre Vermutung bestätigen wollte, aber seine Ehrlichkeit gewann die Oberhand.
«Manchmal», sagte er stattdessen. «Ich war sein Gefährte, als er hier aufwuchs, und … manchmal waren wir Freunde. Er hat mir diese Kleider geschenkt und diese schönen Schuhe – das alles hat einmal ihm gehört. Und von ihm habe ich auch das hier.» James schob seine Haare hoch und Makepeace sah eine weiße Narbe entlang des Haaransatzes über seiner linken Schläfe.
«Wir waren einmal gemeinsam auf der Jagd und ritten zwei feine Stuten. Wir sprangen über eine Hecke, und mein Sprung war sauberer als seiner. Ich wusste es, und er wusste es. Ich sah, wie er mich mit einem Gewitterblick anschaute. Und als wir zur nächsten Hecke kamen und niemand uns mehr sehen konnte, beugte er sich zur Seite und schlug mir mit seiner Peitsche über das Gesicht. Ich geriet im Sattel ins Rutschen, meine Stute blieb verdattert stehen, und ich bin über ihren Kopf hinweg in die Hecke gesegelt!» James lachte und schien den Vorfall viel lustiger zu finden als Makepeace.
«Du hättest dir den Hals brechen können!», rief sie.
«Ich bin hart im Nehmen», sagte James. «Aber er hat mir eine wichtige Lektion erteilt. Er mag aussehen wie Milch und Honig, aber in ihm stecken der Stolz und das Temperament eines Lords. Er hat mir später erklärt, dass ich ihm keine andere Wahl gelassen hätte – er musste der Bessere sein. Vermutlich war das seine Art, sich zu entschuldigen.»
Makepeace fand das eine äußerst erbärmliche Art.
«Er ging weg, nach Oxford, an die Universität, und danach hat Sir Marmaduke ihn bei Hofe eingeführt. Jedes Mal, wenn er heimkommt, übersieht er mich anfangs und scheint mich kaum noch zu kennen. Aber sobald wir allein sind, reden wir wie in alten Zeiten … für eine Weile.»
Obwohl Makepeace wusste, dass sie kein Recht darauf hatte, stach sie die Eifersucht bei dem Gedanken, dass James mit einer anderen Person vertrauliche Gespräche führte.
James war mittlerweile ihr engster Freund und Kamerad. Sie vertraute ihm mehr als jedem anderen menschlichen Wesen, und doch hatte sie ihm immer noch nichts von Bär erzählt. Je länger sie es hinauszögerte, desto schwieriger wurde es, James zu gestehen, dass sie etwas so Wichtiges vor ihm geheim gehalten hatte. Nach drei Monaten wusste sie nicht mehr, wie sie es ihm sagen sollte. Sie fühlte sich schuldig deswegen, und manchmal auch ein bisschen traurig, als ob sie ein Boot verpasst hätte und nun für immer an einer einsamen Küste gestrandet wäre.
«Und was ist das für eine Charta?», wollte sie wissen. «Hat Master Symond dir das gesagt?»
«Er hat sie nicht gelesen», antwortete James, «und er weiß auch nicht, was drinsteht. Er meint, das sei streng geheim. Er sagte mir aber, dass es dem König gar nicht recht gewesen sei und dass Sir Marmaduke große Mühe gehabt habe, ihn zur Unterschrift zu bewegen. Seine Majestät habe letztendlich zugestimmt, aber nur, weil die Fellmottes ihm ein Vermögen leihen und Sir Marmaduke ihm hilft, ein paar Kronjuwelen zu verkaufen.»
Makepeace runzelte die Stirn. James’ Worte weckten in ihr eine verschwommene, bedrohliche Erinnerung an ihren ersten Tag in Grizehayes.
«Braucht der König Geld?» Ihr fiel ein, dass Lord Fellmotte das behauptet hatte.
«Sieht ganz so aus.» James zuckte mit den Schultern.
«Was ist eine Royal Charta überhaupt?», fragte Makepeace.
«Das ist eine … königliche Erklärung.» James klang ein bisschen unsicher. «Sie gibt dir die Erlaubnis, Dinge zu tun. Wie … dein Haus zu befestigen. Oder … Pfeffer zu verkaufen. Oder ausländische Schiffe anzugreifen.»
«Aber wo liegt dann der Sinn in einer geheimen Erklärung?», fragte Makepeace. «Wenn der König einem etwas erlaubt, warum darf dann keiner davon wissen?»
«Hmm. Stimmt, das ist merkwürdig.» James runzelte nachdenklich die Stirn. «Aber die Charta erteilt den Fellmottes auf jeden Fall die Erlaubnis, etwas Bestimmtes zu tun. Master Symond sagte, er habe gehört, wie Sir Marmaduke von ‹den uralten Bräuchen und Praktiken unseres Vermächtnisses› sprach.»
«James», sagte Makepeace langsam. «An meinem ersten Abend hier hörte ich, wie seine Lordschaft und White Crowe über etwas sprachen. White Crowe meinte, es gäbe Leute bei Hof, die die Fellmottes der Hexerei bezichtigten.»
«Der Hexerei!» James‘ Augenbrauen schnellten in die Höhe. «Warum hast du mir das nicht erzählt?»
«Ich war an jenem Tag nicht bei Sinnen vor Fieber! Es ist, als würde man sich an einen Albtraum erinnern. Ich habe seitdem nicht mehr daran gedacht.»
«Aber du bist sicher, dass er Hexerei sagte?»
«Ich denke schon. Lord Fellmotte meinte, sie könnten wohl nicht verhindern, dass dem König Gerüchte zu Ohren kämen, also müssten sie dafür sorgen, dass er sie nicht beachtet. Sie brauchten ein Druckmittel gegen ihn. Und dann redeten sie darüber, dass der König dringend Geld benötigt und dass sie vielleicht etwas arrangieren könnten.»
James blickte stirnrunzelnd ins Leere.
«Also», sagte er nach einer Weile langsam, «was wäre, wenn die ‹uralten Bräuche› der Fellmottes irgendetwas Böses sind? Etwas, das sie in den Verdacht bringen könnte, Hexerei zu betreiben? Wenn der König eine Charta unterschrieben hat, in der er ihnen die Erlaubnis für etwas Teuflisches erteilt, dann kann er sie nicht als Hexer verhaften lassen, nicht wahr? Denn wenn er es täte, dann würden sie aller Welt die Charta zeigen und man würde auch ihn anklagen.»
«Wenn die Fellmottes fallen, fällt auch er», führte Makepeace den Gedanken weiter. «Das ist Erpressung.»
«Ich habe dir doch gesagt, dass mit den Fellmottes etwas nicht stimmt!», rief James. «Ihre ‹uralten Bräuche› … Das muss irgendetwas sein, was passiert, wenn sie ihr Erbe antreten. Ich habe dir ja erzählt, dass sie sich verändern. Vielleicht verkaufen sie ihre Seelen dem Teufel!»
«Wir wissen doch gar nicht …», setzte Makepeace an.
«Wir wissen, dass sie Hexer sind oder zumindest so was in der Art!»,