Скачать книгу

Es stimmte, Obadiah war mehr an ihren Albträumen interessiert gewesen als an irgendetwas sonst. «Was kümmern sie unsere Träume?»

      «Ich weiß nicht», gab James zu. «Aber wir sind nicht die Einzigen. Manchmal kommen Lord Fellmottes Kusinen zu Besuch, und jede bringt einen oder zwei Bedienstete mit, die Fellmotte-Blut in den Adern haben. Ich glaube, dass alle Fellmottes ihre Bastarde einsammeln, wenn sie sich als Träumer erweisen.

      Sie holen uns, und dann lassen sie uns nicht mehr weg. Das habe ich gemerkt, als ich versuchte, nach Hause zu gehen. Heute würde ich es nicht wieder tun, diese Frau würde mich doch nur ein weiteres Mal an die Fellmottes verkaufen.» Er runzelte scheinbar peinlich berührt die Stirn.

      «Nachts werden die Türen mit einem schweren Riegel und Eisenketten versperrt», fuhr James fort, «und die Laufburschen schlafen direkt an den Eingängen. Das Tor ist ebenfalls verschlossen, und im Innenhof streunen die Hunde frei herum. Ich bin am Tag abgehauen. Aber rings um die Mauern erstrecken sich offene Felder, mindestens drei Meilen weit. Da ist man so klar und deutlich zu sehen wie ein Blutstropfen im Schnee.

      Bei meinem zweiten Versuch habe ich es weiter geschafft, bis hinaus ins Moor. Da war es bitter kalt und kahl, nichts als Sumpf und Wälder. Vom eisigen Wind waren meine Finger schon ganz grau. Ich bin halb erfroren in ein Dorf getaumelt, und das war’s. Die Bauern dort haben nur einen Blick hierauf geworfen» – er tippte sich gegen das Kinn –, «mich am Kragen gepackt und zurückgebracht. Sie wussten genau, wer ich war und wer mich haben wollte. Und sie hatten Angst.

      Letztes Jahr dachte ich, ich hätte es geschafft. Fünfzig Meilen, über drei Flüsse, bis nach Braybridge im nächsten County.» Wieder schüttelte James den Kopf und verzog das Gesicht. «Sie haben mir White Crowe auf den Hals gehetzt. Du kennst ihn, er hat dich hierhergebracht. Die Herrschaften setzen ihn nur bei Angelegenheiten ein, die still und leise über die Bühne gehen müssen. Er ist ihre Schattenhand. Und alle haben sich förmlich überschlagen, ihm dabei zu helfen, mich zu finden, selbst reiche und mächtige Männer. Die Fellmottes sind nicht nur eine einflussreiche Familie. Alle haben Angst vor ihnen.»

      Makepeace biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und sagte nichts. Er war vermutlich bloß ein Aufschneider, wie die meisten Lehrlinge in Poplar, und bauschte seine Erfahrungen und Erlebnisse auf, aber seine Worte rissen kleine Kratzer von Unbehagen in ihrem Geist auf.

      «Aber jetzt kannst du mir helfen!», fuhr James fort. «Mir trauen sie nicht mehr, aber dich werden sie nicht verdächtigen. Du kannst für mich die Augen offenhalten. Oder Sachen beiseiteschaffen, die wir für die Flucht brauchen – Vorräte, Bier, Kerzen …»

      «Ich kann doch nicht weglaufen!», protestierte Makepeace. «Ich kann nirgends hin! Wenn ich meinen Platz hier aufgebe, werde ich noch vor Pfingsten verhungern oder erfrieren! Oder ermordet werden!»

      «Ich werde dich beschützen», beharrte James.

      «Wie denn? Das Land zerbricht, das sagen alle, und ich habe es gesehen! Du kannst mich nicht beschützen vor … vor dem wild gewordenen Mob oder vor Gewehrkugeln! Oder vor Geistern, die mein Gehirn fressen wollen! Hier habe ich ein Bett und genug zu essen, und das ist viel mehr, als mich draußen auf dem Moor erwartet! Ich habe heute sogar Weißbrot gegessen!»

      «Das Blut unseres Vaters verschafft uns gewisse Vergünstigungen, das ist wahr», sagte James. «Mein Essen ist immer ein bisschen besser als das, was die anderen Dienstboten bekommen. Manchmal, wenn ich meine Pflichten erfüllt habe, bekomme ich sogar Unterricht. Ich lerne lesen, fremde Sprachen, reiten. Du vielleicht auch. Die anderen Dienstboten zucken nicht mit der Wimper; sie wissen, wessen Bastard ich bin, auch wenn sie es nicht aussprechen.»

      «Und warum willst du dann weglaufen?»

      «Hast du den alten Obadiah gesehen?», fragte James scharf.

      «Ja», sagte Makepeace langsam; ihre Stimme bebte unwillkürlich. «Er ist …»

      Sie verstummte.

      «Du kannst es auch sehen, nicht wahr?», flüsterte James. Er wirkte verblüfft und erleichtert zugleich.

      Makepeace zögerte und blickte ihm ins Gesicht. Sie fragte sich plötzlich, ob das eine Art Prüfung war, die sich Obadiah ausgedacht hatte. Wenn sie jetzt etwas Respektloses sagte, würde James sie vielleicht melden, und vielleicht würde man sie dann wegschicken oder wieder im Vogelzimmer anketten.

      Menschen konnte man nicht vertrauen. Hunde knurrten, bevor sie zubissen, aber Menschen nicht. Menschen lächelten.

      James hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und weit auseinanderstehende Augen. Aber was ihr besonders auffiel, waren seine Hände mit den verschorften Knöcheln. Es waren die Hände einer sorglosen, rücksichtslosen Person, eines Raufbolds, aber es waren ehrliche Hände. Ihr Anblick entschied die Sache zu seinen Gunsten. Makepeace beschloss, ein Körnchen Vertrauen in die Waagschale zu werfen.

      «Ich weiß auch nicht, was es bedeutet», flüsterte sie, «aber an ihm ist irgendetwas …»

      «… falsch», beendete James ihren Satz.

      «Es fühlt sich an wie … wenn ich ihm in die Augen schaue … wie die toten Wesen in meinen Albträumen.»

      «Ich weiß.»

      «Aber er ist lebendig!»

      «Ja. Und trotzdem kriegst du eine Gänsehaut und dir kribbeln die Finger, nicht wahr? Niemand sonst sieht es, nur wir beide, oder wenn sie es sehen, dann reden sie nicht darüber. Und …», James beugte sich vor und wisperte ihr ins Ohr, «Obadiah ist nicht der Einzige. Alle älteren Fellmottes sind so wie er.»

      «Sir Thomas nicht!», widersprach Makepeace, die sich an die hellen braunen Augen des Mannes erinnerte.

      «Nein, noch nicht», sagte James ernst. «Sie sind nicht von Anfang an so. Erst wenn sie ihr Erbe antreten und Land und Titel übernehmen, dann passiert etwas. Sie verändern sich. Es ist, als ob ihr Blut über Nacht kalt wird. Auch andere Menschen merken, dass etwas anders ist. Die Diener nennen sie nur die ‹Elder›, die klugen Alten. Sie sind zu flink, sie sind zu clever. Sie wissen zu viel, was sie nicht wissen sollten. Und man kann sie nicht anlügen. Sie durchschauen dich sofort.

      Deshalb müssen wir weg! Dieses Haus ist … eine Brutstätte für Teufel! Wir sind keine Diener, wir sind Gefangene! Und sie sagen uns nicht einmal, warum!»

      Makepeace kaute auf ihrer Unterlippe, hin und her gerissen von ihrer Unsicherheit. Sie konnte ihrem Instinkt vertrauen, irgendetwas war mit Obadiah. Mutter war aus Grizehayes geflohen und hatte alle erdenklichen Mühen auf sich genommen, damit die Fellmottes sie nicht aufspürten. Und sie musste auch an Bär denken – Bär, der aus ihr herausgerissen und vernichtet werden würde, wenn Obadiah herausfand, dass er hier war.

      Aber all das waren nur vage Schrecken. Die Angst, angekettet und geschlagen oder hinaus in die Wildnis gejagt zu werden, wo Hunger und wahnsinnige Geister auf sie warteten, war so greifbar, dass sie glaubte, sie anfassen zu können. Und tief in ihr lauerte auch noch jener quälende Gedanke, dass vielleicht Mutters zerfetzter Geist immer noch jenseits der schützenden Mauern von Grizehayes herumirrte und nach ihr suchte. Die Vorstellung war gleißend weiß von Hoffnung und Grausen, und ihr Geist zuckte vor ihr zurück.

      «Es tut mir leid», sagte Makepeace, «aber ich kann nicht mit dir weglaufen. Ich brauche ein Zuhause, und sei es auch nur dieses hier.»

      «Ich mache dir keinen Vorwurf, wenn du Angst hast», sagte James freundlich. «Aber ich verwette meinen Hals darauf, dass wir hier mehr zu fürchten haben als sonst irgendwo. Ich hoffe, du änderst noch deine Meinung. Ich hoffe, du tust es bald, damit du mit mir kommen kannst.»

      Makepeace war Freundlichkeit nicht gewohnt, und es war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Seit Mutters Tod gähnte in der Welt ein weites, quälendes Loch, und sie wünschte sich verzweifelt einen Menschen, der dieses Loch füllen konnte. Einen Augenblick lang war Makepeace in Versuchung, James von Bär zu erzählen.

      Aber sie biss sich auf die Zunge, und der Augenblick verging. Dieses Geheimnis war zu groß für jemanden, den sie erst so kurz kannte. Es konnte sein,

Скачать книгу