ТОП просматриваемых книг сайта:
Sonderlinge, Außenseiter, Femmes Fatales. Michaela Lindinger
Читать онлайн.Название Sonderlinge, Außenseiter, Femmes Fatales
Год выпуска 0
isbn 9783902998644
Автор произведения Michaela Lindinger
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Ähnlich wie Stephanie, wenn auch um einiges einfühlsamer, schildert Eduard Pötzl die Atmosphäre in jenen »Kaschemmen«, deren Inhaber jungen Sängerinnen Auftritte ermöglichten. Der Starjournalist – die Zeitgenossen nannten ihn den »Dickens von Wien« – schrieb unter dem Pseudonym »Kleinpetz« und war bekannt für seine treffsicheren Lokalskizzen und präzisen Beobachtungen des Großstadtalltags: Vorherrschend war »qualmtrübe Luft von ungefähr 30 Grad«. Überall sah man »niedliche Lackschuhe, gestreifte Röckchen, carrirte Glockenhosen, schmalrandige Hüte, aufgewichste Scheitel«. Im Obersaal »mit noch heißerer Stickluft« saßen große »zechende Gesellschaften«. Dazwischen rannten »verzweifelnde Kellner« umher, »schmetternde Jodler« tönten durch das verrauchte Etablissement: »Es ist eigentlich zum Davonlaufen, aber eben deshalb für die Leutchen die richtige Taumel-Atmosphäre.« Absolute Meisterin im »Dudeln« – so hieß in Wien das Jodeln – war Luise Montag, das »Lercherl von Hernals«. Ihr Überschlagen vom hellen Sopran in dunklen Alt machte ihr keine nach und löste bei den Zuhörern große Begeisterung aus. In ihrer Jugend war sie als »fescher Tirolerbua« aufgetreten, denn die feine Gesellschaft liebte die Natur … Da hatte sie noch Aloisia Pintzker geheißen. Den Namen Montag nahm sie aus Verehrung für Antonie Mansfeld an, die als Tochter des Kaspar Montag aus Bayern und der Elisabeth Kintner aus Böhmen in Wien zur Welt gekommen war. Das »Lercherl von Hernals« starb genauso wie ihr Vorbild im »Irrenhaus«, nämlich in Steinhof, nachdem sie jahrelang als Bettgeherin in einer armseligen Kammer ihr Dasein gefristet und schließlich einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. »Laut gelebt und still gestorben« schrieb Das Kleine Volksblatt in einer Erinnerung an sie.
Im Zentrum der Stadt war die Hochkultur zu Hause, doch die Massenunterhaltung fand an der Peripherie statt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann bereits von einer strikten Trennung zwischen E- und U-Musik gesprochen werden. Die massenhaft produzierte Unterhaltungs- und Tanzmusik wurde mit wenigen Ausnahmen im musikästhetischen Urteil der Intelligenz mit Verachtung gestraft. Zwischen exklusiv-gehobener Kunstmusik und volkstümlich »niederer« Trivialmusik bestand zur Zeit der großen Volkssängerinnen keine Verbindung mehr. Die Massenkultur war für die Entwurzelten und Migranten, die im industriellgewerblichen Sektor harte Erwerbsarbeit leisteten. Kennzeichen ihres Daseins in den Wiener Vorstädten waren triste Wohnverhältnisse, schlechte Ernährung, schwerwiegende gesundheitliche Probleme und als Resultat daraus: eine geringe Lebenserwartung. Solange sie konnten, nahmen diese Leute exzessiv an der Welt des Vergnügens teil, um die Realität auszublenden. Man sprach von der »amüsierwütigen Masse«. Herber Humor, Spott, Schrecken und Sensation, Spannung und Nervenkitzel, alles in allem schranken-und hemmungslose Heiterkeit waren das Ziel dieser speziellen Art der Unterhaltung. Pülcher und Strizzis bevölkerten die Gassen, Halbwelt- und Vorstadtbonvivants kontrollierten ganze Straßenzüge. Man lebte in einer Mischung zwischen Fabrikstadt und Dorf, inmitten der lärmenden Bevölkerung und dem allgegenwärtigen Staub. Und immer im Zentrum des Geschehens der beliebte Vorstadttyp der »liederlichen Weibsperson«.
Käufliche Mädchen trugen Notenblätter in der Hand, um sich als Sängerin auszugeben, sollten sie von der Polizei aufgegriffen werden. Stand man nämlich »zwecklos« auf der Straße herum, wurde man rasch als Prostituierte wahrgenommen und in ein Polizeigefängnis gebracht. Modistinnen, Blumenmacherinnen, Verkäuferinnen, Ladenmädchen mit Hungerlöhnen und ihren Amants, die ständig wechselten, gaben sich ein Stelldichein. Selbst eine Sexarbeiterin der untersten Kategorie konnte für eine Dienstleistung eine Krone verlangen und kam so auf 40 bis 60 Kronen im Monat – also auf ein Vielfaches einer Fabrikarbeiterin oder eines Dienstmädchens. Um 1890 gab es fast 90 000 Dienstbotinnen in Wien, das entspricht 34 Prozent der erwerbstätigen Frauen. Noch vor den Tänzerinnen und Schauspielerinnen rangierte in der Berufsstatistik der Prostituierten das praktisch rein weibliche Personal der Textilbranche. Hing über einem unauffälligen Eingang ein Schild mit der harmlosen Aufschrift »Kleidersalon«, konnte man davon ausgehen, dass es sich um ein »toleriertes Haus« – also ein Bordell – handelte.
In den Wirtshäusern Neulerchenfelds hatte es die ausgesprochen übel beleumundeten, sogenannten »Nackten Bälle« gegeben, Veranstaltungen, die in den 1850er-Jahren polizeilich verboten worden waren. Die »liederlichen Weibspersonen« fanden umgehend anderweitig Ersatz, sie traten nun als Männer verkleidet auf Maskenbällen auf, was ebenfalls polizeilich untersagt war. Gestattet war lediglich, dass sich Männer als Frauen ausgaben. Besonders gut besucht waren die nicht ganz jugendfreien »Lumpenbälle« und die bis heute legendären »Wäschermädelbälle«.