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Frau auf der Schwel­le. Sie strick­te im Ge­hen. Es war eine ech­te Au­ver­gna­tin, von leb­haf­ter Ge­sichts­far­be, mit of­fe­ner, hei­te­rer Mie­ne und wei­ßen Zäh­nen; sie hat­te das Ge­sicht der Au­ver­gne, den Wuchs der Au­ver­gne, Hau­be und Tracht der Au­ver­gne, die vol­len Brüs­te der Au­ver­gne und die Mund­art der Au­ver­gne; ein voll­kom­me­nes Ideal­bild des Lan­des, sei­ner ar­beit­sa­men Sit­ten, sei­ner Un­wis­sen­heit, Spar­sam­keit und Herz­lich­keit; es fehl­te nichts.

      Sie grüß­te Ra­pha­el, und es ent­spann sich ein Ge­spräch. Die Hun­de be­ru­hig­ten sich; der Greis setz­te sich auf eine Bank in die Son­ne, und das Kind wich sei­ner Mut­ter nicht von der Sei­te; es schwieg, aber hör­te auf­merk­sam zu und sah den Frem­den for­schend an.

      »Ihr fürch­tet Euch hier nicht, gute Frau?«

      »Und wes­halb soll­ten wir Furcht ha­ben, Mon­sieur? Wenn wir den Ein­gang ver­sper­ren, wer soll­te dann wohl her­ein­kön­nen? Oh, wir ha­ben kei­ne Furcht! Üb­ri­gens« – da­mit ließ sie den Mar­quis in das große Zim­mer des Hau­ses tre­ten – »was soll­ten die Die­be denn bei uns ho­len?«

      Sie wies auf die rauch­ge­schwärz­ten Wän­de, an de­nen als ein­zi­ger Schmuck die blau, rot und grün ko­lo­rier­ten Sti­che hin­gen: »Der Tod des Kre­dits«, »Die Pas­si­on Jesu Chris­ti« und »Die Gre­na­die­re der kai­ser­li­chen Gar­de«. Wei­ter­hin gab es in dem Zim­mer ein al­tes Säu­len­bett aus Nuß­baum, einen Tisch mit gedrech­sel­ten Bei­nen, Holz­sche­mel, den Back­trog, eine Speck­sei­te, die von der De­cke bau­mel­te, einen Salz­topf, eine Pfan­ne und auf dem Ka­min ver­gilb­te, be­mal­te Gips­fi­gu­ren. Als er das Haus wie­der ver­ließ, sah Ra­pha­el auf den Fel­sen einen Mann, der eine Ha­cke in der Hand hielt, sich neu­gie­rig vor­beug­te und auf das Haus sah.

      »Se­hen Sie Mon­sieur, da ist der Mann«, sag­te die Au­ver­gna­tin. Da­bei lä­chel­te sie, wie man es an Bäue­rin­nen oft sieht. »Er ar­bei­tet da oben.«

      »Und der Alte ist Euer Va­ter?«

      »Sie müs­sen schon ent­schul­di­gen, Mon­sieur, das ist der Groß­va­ter vom Mann. So wie Sie ihn da se­hen, ist er hun­dertzwei Jah­re alt. Nun, kürz­lich hat er un­se­ren klei­nen Kerl zu Fuß nach Cler­mont ge­führt! Er war ein­mal ein star­ker Mann; jetzt tut er nichts mehr als es­sen, trin­ken und schla­fen. Er macht sich im­mer mit dem klei­nen Kerl zu schaf­fen. Manch­mal führt der Klei­ne ihn auf den Berg; es geht im­mer noch.«

      So­fort ent­schloß sich Va­len­tin, bei die­sem al­ten Mann und dem Kind zu le­ben, in ih­rer Luft zu at­men, von ih­rem Brot zu es­sen, von ih­rem Was­ser zu trin­ken, ih­ren Schlaf zu schla­fen, ihr Blut durch sei­ne Adern flie­ßen zu las­sen. Die Lau­ne ei­nes Ster­ben­den! Eine der Aus­tern die­ses Fel­sens zu wer­den, sei­ne Scha­le noch ei­ni­ge Tage län­ger zu ret­ten, in­dem er den Tod blind und taub mach­te, das wur­de für ihn das Leit­bild der in­di­vi­du­el­len Moral, die wahr­haf­te For­mel des mensch­li­chen Da­seins, das schö­ne Ide­al des Le­bens, das ein­zi­ge Le­ben, das wah­re Le­ben. Ein in­brüns­ti­ger Ego­is­mus be­mäch­tig­te sich sei­nes Her­zens, in dem das Uni­ver­sum ver­sank. In sei­nen Au­gen gab es kein Uni­ver­sum mehr, das Uni­ver­sum war in ihm. Für einen Kran­ken fängt die Welt am Kopf­kis­sen an und en­det am Fu­ßen­de des Bet­tes. Die­se Land­schaft wur­de Ra­phaels Bett.

      Wer hat nicht schon ein­mal in sei­nem Le­ben den Lauf und das Ver­hal­ten ei­ner Amei­se eif­rig be­ob­ach­tet; in das ein­zi­ge Atem­loch ei­ner wei­ßen Schne­cke Stroh­hal­me ge­steckt; den lau­ni­schen Flug ei­ner schlan­ken Li­bel­le ver­folgt oder die tau­send Äder­chen be­wun­dert, die sich, bunt wie die Ro­set­te ei­ner go­ti­schen Ka­the­dra­le, auf den röt­li­chen Blät­tern ei­ner jun­gen Ei­che ab­zeich­nen? Wer hat nicht eine ge­rau­me Wei­le ent­zückt die Wir­kung der Son­ne und des Re­gens auf ein brau­nes Zie­gel­dach be­trach­tet oder die Tau­trop­fen, die Blü­ten­blät­ter, ihre man­nig­fal­tig ge­zack­ten Kel­che be­schaut? Wer war nicht schon in die­se sinn­li­chen, trä­gen und hin­ge­ge­be­nen Träu­me ver­sun­ken, die kein Ziel ha­ben und doch zu ei­nem Ge­dan­ken füh­ren? Wer schließ­lich hat nicht schon ein­mal das Le­ben des Kin­des, das fau­le Le­ben, das Le­ben des Wil­den ohne des­sen täg­li­che Ver­rich­tung ge­führt? So leb­te Ra­pha­el meh­re­re Tage lang, ohne Sor­gen, ohne Wün­sche. Er fühl­te sich merk­lich bes­ser, fühl­te ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Be­ha­gen, das sei­ne Un­ru­he be­sänf­tig­te, sei­ne Qua­len lin­der­te. Er stieg auf die Fel­sen und setz­te sich auf eine Berg­spit­ze, von der aus sein Auge bis in die wei­te Fer­ne schau­te. Da ver­brach­te er gan­ze Tage wie eine Pflan­ze in der Son­ne, wie ein Hase auf sei­nem La­ger. Oder er mach­te sich mit den Er­schei­nun­gen der Ve­ge­ta­ti­on, mit den Ver­än­de­run­gen des Him­mels ver­traut, er be­ob­ach­te­te auf­merk­sam die fort­schrei­ten­de Ent­wick­lung auf der Erde, im Was­ser oder in der Luft. Er ver­such­te sich mit dem in­ne­ren Le­ben die­ser Na­tur zu ver­bin­den und mit ih­rem dul­den­den Ge­hor­sam so völ­lig zu ver­schmel­zen, daß er dem un­um­schränk­ten, zwin­gen­den und er­hal­ten­den Ge­setz ver­fiel, das über den Ge­schöp­fen, die dem In­stinkt fol­gen, wal­tet. Er woll­te nicht län­ger die Last sei­ner selbst tra­gen. Gleich den Ver­bre­chern ver­gan­ge­ner Zei­ten, die, von der Jus­tiz ver­folgt, ge­ret­tet wa­ren, wenn sie sich in den Schat­ten ei­nes Al­tars ge­flüch­tet hat­ten, ver­such­te er sich in das Hei­lig­tum des Le­bens ein­zu­schlei­chen. Es ge­lang ihm, ein Teil die­ses wei­ten und mäch­ti­gen Rei­fe­pro­zes­ses der Na­tur zu wer­den: er hat­te alle Un­bil­den der Wit­te­rung er­fah­ren, in al­len Höh­len der Fel­sen ge­haust, die Ei­gen­ar­ten und Ge­wohn­hei­ten al­ler Pflan­zen ken­nen­ge­lernt, die Her­kunft und den Ver­lauf der Quel­len er­forscht und mit den Tie­ren Be­kannt­schaft ge­schlos­sen; kurz, er war mit die­ser be­leb­ten Erde so völ­lig eins ge­wor­den, daß er ge­wis­ser­ma­ßen ihre See­le er­faßt hat­te und in ihre Ge­heim­nis­se ein­ge­drun­gen war. Für ihn wa­ren die un­end­li­chen For­men in al­len Rei­chen der Na­tur die Ent­wick­lun­gen ein und der­sel­ben Sub­stanz, die Kom­bi­na­tio­nen ein und der­sel­ben Be­we­gung, der weit­rei­chen­de Atem ei­nes un­ge­heu­ren We­sens, das wirk­te, dach­te, vor­an­schritt, wuchs und mit dem er wach­sen, vor­an­schrei­ten, den­ken und wir­ken woll­te. Er hat­te sein Le­ben in ro­man­ti­scher Art mit dem Le­ben die­ses Fel­sens ver­eint, war mit ihm ver­wach­sen. Dank die­sem ge­heim­nis­vol­len Auf­fla­ckern, die­ser künst­li­chen Ge­ne­sung, die den wohl­tä­ti­gen Zu­stän­den des De­li­ri­ums zu ver­glei­chen war, mit de­nen die Na­tur dem Schmerz Pau­sen der Er­leich­te­rung be­wil­ligt, kos­te­te Va­len­tin in den ers­ten Ta­gen sei­nes Auf­ent­halts in die­ser la­chen­den Land­schaft die Won­nen ei­ner zwei­ten Kind­heit. Er leb­te so in den Tag hin­ein, er­grün­de­te Nich­tig­kei­ten, un­ter­nahm tau­send Din­ge, ohne eins zu vollen­den, ver­gaß heu­te, was er ges­tern vor­ge­habt hat­te, und war sorg­los, war glück­lich und glaub­te sich ge­ret­tet. Ei­nes Ta­ges war er zu­fäl­lig bis Mit­tag im Bett ge­blie­ben; er lag in eine der Träu­me­rei­en ver­sun­ken, die aus Schlaf und Wa­chen ge­mischt sind, die der Wirk­lich­keit den An­schein der Phan­ta­sie, den Trug­bil­dern die Ge­stalt der Wirk­lich­keit ver­lei­hen, als er plötz­lich, ohne daß er gleich wuß­te, ob er nicht wei­ter­träum­te, zum ers­ten­mal den Be­richt über sein Be­fin­den mit an­hör­te, den sei­ne Wir­tin Jo­na­thas mit­teil­te, der wie je­den Tag her­auf­ge­kom­men war, um sich da­nach zu er­kun­di­gen. Die Au­ver­gna­tin glaub­te wahr­schein­lich, Va­len­tin schla­fe

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