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hatte sich Olivia von ihrem Schrecken erholt.

      »Respekt wofür denn?«, fragte sie abfällig. »Ich bin immerhin auf Jobsuche. Und du? Was bist du außer ein gnadenloser Versager?«

      Nicht mehr viel und es wäre um Pauls Beherrschung geschehen gewesen. Am ganzen Körper zitternd stand er vor Olivia und schrie: »Ich bin Oberstudienrat! Hast du das gehört? Ein Oberstudienrat. Ich hab in meinem Leben immerhin schon was geleistet. Aber du hast ja noch nicht mal Abitur. Leiste du erst mal deinen Beitrag! Dann können wir weiterreden.« Einen Moment lang dachte Olivia, er würde zuschlagen. Doch dann wandte sich Paul plötzlich ab, lief aus der Küche und polterte die Treppe hinauf.

      Auch Olivia war aufgewühlt wie lange nicht. Ihre Hände bebten, als sie sich wieder nach ihrem Putzeimer bückte. Sie fischte den Putzlappen aus dem Wasser und machte mit ihrer Arbeit weiter. Ein paar Minuten später hörte sie, wie die Haustür krachend ins Schloss fiel. Zum ersten Mal war sie allein in ihrem Haus und atmete erleichtert auf.

      *

      An diesem Vormittag arbeitete Tatjana wie eine Besessene. Obwohl sie auch sonst nicht langsam war, waren die Gäste in Frau Bärwalds kleinem Café nie schneller bedient worden. Die Kundschaft der Bäckerei wurde prompt bedient, und wenn es nichts zu tun gab, lehnte Tatjana nicht wie sonst am Tresen und trank Kaffee mit ihrer Chefin, sondern putzte hektisch die Scheiben der Auslage, bis sie glänzten und strahlten wie nie zuvor.

      Eine ganze Weile beobachtete Hannelore Bärwald die Aktivitäten ihrer zuverlässigen Aushilfskraft mit wachsender Skepsis. Dann traf sie eine Entscheidung.

      »Aber was machen Sie denn, Frau Bärwald?«, fragte Tatjana irritiert, als ihre Chefin kurz entschlossen den Schlüssel herumdrehte und das ›Bin gleich wieder da‹-Schild ins Fenster hängte.

      »Ich sperre zu.«

      »Aber warum denn?«

      Hannelore Bärwald drehte sich zu Tatjana um und lächelte sie an.

      »Weil du mir jetzt erzählst, was mit dir los ist«, verlangte sie und zog Tatjana mit sich an einen der Tische. Dort drückte sie sie auf einen Stuhl, ging zurück zur Kaffeemaschine und kehrte schließlich mit einem Tablett mit Kuchen und Kaffee an den Tisch zurück. »Also, was ist passiert?«, verlangte sie zu erfahren.

      Hilflos saß die Studentin vor ihrem Teller und knetete die schmalen Hände im Schoß. Frau Bärwald genoss den ganzen Respekt ihrer jungen Mitarbeiterin. Schließlich war sie es gewesen, die der damals noch blinden Tatjana all ihr Vertrauen geschenkt und ihr den Job im Café gegeben hatte. Seither verband die beiden Frauen trotz aller Unterschiede eine innige Freundschaft.

      »Ich war heute Morgen in der Klinik und wollte Danny besuchen«, begann Tatjana schließlich stockend zu erzählen. »Wenn ich gewusst hätte, dass er schon um diese Uhrzeit Besuch hat, hätte ich es gelassen. So aber hab ich blöderweise ein Gespräch zwischen ihm und der jungen Frau mitbekommen, die ihm die Hand in der Motorhaube eingeklemmt hat.«

      »Na, so ganz unfreiwillig kann das ja nicht gewesen sein«, sagte Frau Bärwald ihr schmunzelnd auf den Kopf zu. »Ich meine, dass du das Gespräch mit angehört hast.«

      »Stimmt schon. Ich hätte wieder gehen können«, räumte Tatjana zerknirscht ein. »Aber irgendwie ging es nicht. Ich war wie paralysiert«, gestand sie kleinlaut. »Dieses Mädchen interessiert sich für Medizin, und Danny hat versucht, sie zu überreden, das Abitur nachzumachen und Medizin zu studieren.«

      »Er ist selbst Arzt und weiß vermutlich, wie interessant dieser Beruf ist.« Hannelore Bärwald verstand Tatjanas Bedenken nicht. »Was ist daran verkehrt?«

      »Ach, ich weiß auch nicht.« Um ihren nervösen Händen etwas zu tun zu geben, griff Tatjana nach dem kleinen Löffel, der neben ihrer Tasse lag. Sie gab Zucker in den Kaffee und rührte gedankenverloren um. »Es ist nur so ein vager Eindruck …, ein Gedanke, der mir schon öfter in den Sinn gekommen ist …«, versuchte sie, das einzufangen, was sie bewegte. »Was, wenn ich Danny nicht genüge? Immerhin teile ich seine Leidenschaft für Medizin nicht und kann mich über dieses Thema kaum mit ihm unterhalten.«

      »Na und?« Ungerührt zuckte Frau Bärwald mit den Schultern. »Er interessiert sich ja auch nicht für Orientalistik, oder?«

      »Das ist was anderes«, wiedersprach Tatjana und wusste gleichzeitig, dass das Unsinn war.

      Hannelore Bärwald griff nach ihrer Gabel und stach ein Stück vom Bienenstich ab. Sie schob es in den Mund und schloss genüsslich die Augen, als die süße Buttercreme auf ihrer Zunge schmolz.

      »Es geht um etwas anderes, nicht wahr?«, setzte sie das Gespräch dann fort. Sie war eine einfache Frau und hatte vielleicht gerade deshalb einen klaren Blick auf die Dinge.

      Verwundert legte Tatjana den kleinen Löffel zur Seite und dachte nach.

      »Es geht vielleicht auch darum, dass ich Angst habe, Danny eines Tages nicht mehr zu genügen«, räumte sie endlich leise ein. Dieser Gedanke bekümmerte sie so sehr, dass er ihr sogar den Appetit auf Süßes verdarb. »Eines Tages wird er sich nach einer Frau sehnen, die ihm mehr bieten kann als ich.«

      »Hat er schon jemals was in der Richtung gesagt?«, hakte Frau Bärwald irritiert nach.

      »Das nicht. Aber ich spüre es.« Das hatte Tatjana an diesem Morgen in der Tat getan. Sie hatte sich vorgestellt, wie Danny mit der jungen Olivia lernte, wie er neben ihr saß und ihr die Anatomie einer menschlichen Hand erklärte, den Aufbau und die Lage der inneren Organe. Sie hatte die beiden vor sich gesehen, wie sie fachsimpelten und sich über einen medizinischen Scherz amüsierten, den Tatjana nicht verstand. Diese Angst war nicht unbegründet, waren doch Fee und Daniel Norden das beste Beispiel dafür, wie sehr das gemeinsame berufliche Interesse ein Paar verbinden konnte. »Es liegt nicht daran, dass ich eifersüchtig bin oder so«, kam sie Hannelore Bärwalds nächster Frage zuvor. »Aber glauben Sie nicht, dass sich Danny eines Tages auch so eine Partnerschaft wünscht, wie seine Eltern sie haben? Eine Partnerin wie seine Mutter, mit der er jederzeit über medizinische Probleme sprechen kann?«, sprach sie die bange Frage aus, die sie schon in der Vergangenheit hin und wieder beschäftigt hatte.

      »Das kann natürlich schon sein«, musste Frau Bärwald widerwillig zugeben. Auch sie hatte das Ehepaar Norden inzwischen kennengelernt und war zutiefst beeindruckt von der Harmonie und dem stummen Einverständnis, das die beiden ausstrahlten. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie noch sagen konnte.

      »Sehen Sie!« Tatjana fühlte sich durch das Schweigen ihrer Chefin bestätigt und holte tief Luft.

      Ihre starke Persönlichkeit wurzelte in ihrer Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das hatte sie ihr Handicap gelehrt. Auch wenn es schwer sein würde, ohne Danny zu leben, so würde sie ihm trotzdem jede Freiheit lassen. Tatjana hätte es nicht ertragen, wenn er aus Mitleid bei ihr blieb. Es zerriss sie fast, wenn sie an Trennung dachte. Aber die Liebe war ein kostbares Geschenk, das man nicht einsperren konnte und durfte. »Lasse los, was du liebst«, zitierte sie den chinesischen Gelehrten Konfuzius sinnend. »Kehrt es zu dir zurück, dann gehört es dir.«

      Ein Klopfen an der Scheibe riss die beiden Frauen aus ihren Gedanken. Ein Kunde hatte beide Hände links und rechts neben das Gesicht gelegt und lugte sichtlich hungrig in die Bäckerei.

      »Ich mache wieder auf«, beschloss Tatjana und lächelte Frau Bärwald tapfer an. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und war im Reinen mit sich, als sie ihrer Chefin dankbar zunickte und dann ging, um den Schlüssel herumzudrehen und das Schild abzunehmen.

      *

      Die Überwachungsgeräte, an die Danny Norden während des Eingriffs angeschlossen war, piepten leise. Dannys Zustand war besorgniserregend gewesen, und die Anästhesistin überwachte peinlich genau sämtliche Werte, während Jenny Behnisch höchstpersönlich das Skalpell führte.

      »Die Infektion hat auf den Unterarm übergegriffen«, seufzte sie und zeigte Daniel Norden die entsprechende Stelle. »Wir müssen den Schnitt bis hierher erweitern.«

      Eine besorgte Falte stand auf Daniels Stirn.

      »Ist

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