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Saint-Preux identifizierte, zeigt sich, wenn er im Rückblick auf die Wetzlarer Zeit schreibt: Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der ganze Kalender hätte müssen rot gedruckt werden. Verstehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem glücklich-unglücklichen Freund der Neuen Heloise geweissagt worden: Und zu den Füßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wünschen Hanf zu brechen, heute, morgen und übermorgen, ja, sein ganzes Leben. Die Formel „heute, morgen und übermorgen, ja, ein ganzes Leben“ ist dem entscheidenden Brief in der Neuen Heloise entnommen, durch den der Protagonist von seinem Selbstmordplan abgebracht wird.

      Die erste Auflage des Romans erschien anonym und begann mit der kurzen Einleitung eines „Herausgebers“. Dass dieser ebenso die Fiktion eines Autors war wie die folgenden Briefe selbst, konnten die Leser dieser Ausgabe folglich nicht erkennen. Ein solcher Kunstgriff suggerierte vielmehr, es handele sich bei den Briefen um echte Schriftstücke, die (mit drei Ausnahmen) an Werthers besten Freund Wilhelm gerichtet waren. Dessen Rolle nimmt nun zwangsläufig der Leser ein: Er wird zum Mitwisser von intimen Gefühlen, die ein scheinbar authentischer Briefschreiber dem ihm am nächsten stehenden Menschen offenbart.

      Indem der fiktive Herausgeber sich wiederholt zu Wort meldet, wird die Vorstellung erhärtet, dass es sich tatsächlich um echte Briefe handelt. Im Gegensatz zu Werthers stets emotionaler Sprache ist der Ton des Herausgebers zwar teilnehmend, aber durchweg sachlich. Letzteres unterstreichen besonders die in einem Roman sonst unüblichen Fußnoten, in denen der Herausgeber Orts- und Personennamen chiffriert, angeblich um tatsächlich existierende Personen zu schützen.

      Ist der Roman selbst als Briefroman in der Ich-Erzählform geschrieben, so sind sowohl das Vorwort als auch der Abschnitt Der Herausgeber an den Leser von der auktorialen Erzählhaltung geprägt. Dieser Kunstgriff wird einerseits aus praktischen Erwägungen erforderlich – kann doch Werther beispielsweise nicht seinen eigenen Tod in einem Brief darstellen, andererseits jedoch auch, um zum Schluss den Spannungsaspekt nochmals zu verstärken. Indem zwischen eingestreuten und nach dem Tod angeblich gefunden Dokumenten und der Kommentierung durch den allwissenden Erzähler ständig gewechselt wird, erhöht sich die Dramatik der Geschehnisse in diesem Schlussabschnitt merklich. Siehe auch: Typologisches Modell der Erzählsituationen.

      Die Leiden des jungen Werthers gilt als Schlüsselroman des Sturm und Drang. Er entwickelte sich „zum ersten Bestseller der deutschen Literatur“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und war Mitauslöser der sogenannten Lesesucht. Dass sein Buch ein Welterfolg werden würde, war auch für Goethe nicht vorhersehbar. Später schrieb er in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit: „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf.“

      Der Herausgeber

      Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir's danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen.

      Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.

Goethe um 1765 Oelgemälde unbekannter Künstler

      Goethe um 1765, Ölgemälde eines unbekannter Künstler

      Erstes Buch

      Am 4. Mai 1771.

      Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir's. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt' ich dafür, daß, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch – bin ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen genährt? hab' ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergetzt? hab' ich nicht – O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

      Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, daß ich ihr Geschäft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das böse Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere, heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre, alles herauszugeben, und mehr als wir verlangten – Kurz, ich mag jetzt nichts davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiß seltener.

      Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahrszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.

      Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M.., einen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Täler bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich bei dem Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen wollte. Schon manche Träne hab' ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei befinden.

      Am 10. Mai.

      Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.

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