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so langer Zeit den Heiden abgerungen und der Jungfrau Maria geweiht worden war. Noch aus der Kindheit erinnerte sich Melchior an die Geschichten der alten Krieger, die manchmal in die Apotheke seines Vaters gekommen waren, um Salbe für ihre schmerzenden Glieder zu kaufen, Geschichten davon, wie sie hierzulande gegen die Heiden gekämpft hatten, als deren Streitmächte Reval umzingelt hatten. Inzwischen war das alles schwer zu glauben, denn zahllose Enkel dieser sogenannten Heiden kamen Tag für Tag in seine Apotheke und auch seine geliebte Gemahlin Keterlyn stammte schließlich von dem Geschlecht ab, das seit ewigen Zeiten hier im Lande lebte. Und selbst wenn sie auch ihr Brot nicht genau so backten oder ihr Bier nicht genau so brauten wie in Thüringen oder Westfalen, so gingen sie jetzt doch jeden Sonntag in die Kirche wie alle anständigen Christenmenschen.

      Melchior Wakenstede fühlte sich in Reval zu Hause, an Lübeck erinnerte er sich kaum. Er war der einzige Apotheker hier in der Stadt, wie es auch sein Vater gewesen war. Melchior liebte Reval. Er hatte einen Eid geschworen, die Stadt mit seinen Arzneien zu heilen, jedem Notleidenden zu helfen und Beschwerden zu lindern. Er wurde auch der Koch des Arztes genannt, in Wirklichkeit war er aber ein bisschen mehr als das. Von gleichem Stand wie die Kaufleute, von gleicher Bildung wie ein Pfarrer oder ein Syndikus, war er in der Stadt ein angesehener Mann, den sowohl die Ratsherren, die Adligen als auch die Ritter respektvoll behandelten.

      Jetzt, an diesem schönen Frühlingsmorgen, kam er aus der Küche in die Apotheke, öffnete die Eingangstür weit und ließ die frische Meeresluft herein. Sein Haus war klein, doch ein größeres hatte sich sein Vater nicht leisten können. Im Erdgeschoss in der Diele war die Apotheke, so wie bei den Kaufleuten der Laden, von der Diele gelangte man in seine Wohnung und von dort führte ein schmaler Durchgang in die Küche. Schon sein Vater hatte den Raum zu einer sogenannten Hexenküche umgebaut. Um die Feuerstelle herum standen Pressen mit Hebeln und Retorten, dort braute und mischte Melchior seine Arzneien. Im ersten Stock waren seine Lagerräume voller Holzkisten, wo er getrocknete Heilpflanzen aufbewahrte. In der Apotheke hatte er einen großen Tisch, und an den Wänden standen Regale, in denen sich Glasgefäße mit Tinkturen, Ölen, Mixturen sowie Mörser aneinanderreihten. Da jeder Apotheker ein bisschen geheimnisvoll sein und den Leuten seine Auserwähltheit demonstrieren musste, hatte Melchior über dem Tisch ein kleines ausgestopftes Krokodil an die Decke gehängt, das zehn Mark gekostet hatte und, wie ihm der verschmitzte Händler versichert hatte, ein echtes ägyptisches Krokodil sein sollte. Die Leute schienen es jedenfalls zu glauben.

      Melchior war hellhäutig, mittelgroß und eher hager, hatte einen kantigen Körperbau und einen schwankenden Gang. Seine schütteren Haare lagen eng am Kopf an, auch dann, wenn er sie an den Seiten länger wachsen ließ und unterhalb der Ohren abschnitt. Seine grauen Augen schienen jederzeit Frohsinn und gute Laune auszustrahlen, Melchior lachte gerne laut über die Späße anderer Leute und sein Lachen war dabei kindlich und vertrauensvoll. Vielen schien, dass er ständig freundlich und gutgelaunt war – ein Apotheker durfte schließlich nicht mürrisch und abweisend sein –, doch manche hatten ihn auch in jenen Momenten gesehen, in denen über sein schüchternes Gesicht ein finsterer Schatten fiel. Dies waren die Augenblicke, in denen er glaubte, dass ihn niemand beobachtete, und dann schien in seinen Augen eine tiefe Beklemmung auf, eine drückende und schmerzhafte Angst. Doch dann schüttelte er dieses Gefühl ab und war wieder der fröhliche Revaler Apotheker, jedermanns Freund und treuer Helfer.

      Es war noch früh, die Stadt erwachte gerade. Melchior setzte sich und sah in seinen Notizen nach, wer heute welche Arznei abholen würde. Hier standen seine Gläser und Mörser, seine Mixturen und getrockneten Kräuter, hier war seine Welt. Aus ihr gab es kein Entrinnen, selbst wenn er es gewollt hätte. Melchior knotete ein Säckchen mit getrocknetem, geraspeltem Knoblauch auf, nahm starken Spiritus vom Regal und stellte ihn vor sich hin. Daraus würde er heute eine Halsarznei für die Bäckersfrau herstellen, obwohl er natürlich viel mehr verdienen würde, wenn er den Gebrannten mit Kräutern mischte und diesen zum Beispiel seinem guten Freund, dem Gerichtsvogt Wentzel Dorn, gegen Bauchschmerzen vorsetzte.

      Doch gerade als Melchior den Knoblauch in den Mörser schüttete, drang leise Musik herein. Er lugte durch die offene Tür auf die Straße und sah, dass Kilian Rechperger, der Kostgänger des Kaufmanns Mertin Tweffell, aus dem Nachbarhaus über die Raderstraße gekommen war, sich auf den Brunnenrand gesetzt hatte und auf seiner Laute spielte.

      Der Junge war wohl noch keine siebzehn Jahre alt, doch soweit Melchior wusste, war er bereits in mehreren Städten im Ausland in der Sangeskunst unterrichtet worden. Nach Reval war er mit der Bürgschaft seines Vaters gekommen, weil der alte Kaufmann Tweffell zufällig ein Verwandter der Rechpergers aus Nürnberg war. Seit vergangenem Sommer wohnte Kilian als Kostgänger im Hause des Oldermanns der Großen Gilde, sang bei Festen in der Stadt, und besonders oft traf man ihn bei den Schwarzhäuptern, wo in der letzten Zeit kein Festessen stattgefunden hatte, ohne dass Kilian dort seine übermütigen Lieder gesungen hätte. Kilian stellte sich gewöhnlich als Schulfreund vor, da man so die Wandergesellen seiner Nürnberger Sängergilde nannte, die in die Ferne zogen, um die Kunst der Musik zu erlernen. Melchior musste sich eingestehen, dass ihm Kilians Musik gefiel. In ihr waren die Wärme südlicher Gefilde zu spüren, Kilian spielte Melodien und Weisen, die die Revaler Musiker nicht kannten, und seine Stimme war klar und rein, wohlklingend und warm. Was auch nicht unbemerkt an einigen jungen Mädchen vorbeigegangen ist, dachte Melchior. Und runzelte die Stirn.

      Melchior fuhr mit der Zubereitung der Hustenmixtur fort und sah, wie sich die Tür des Nachbarhauses öffnete und Gerdrud, die junge Frau des Kaufmanns Tweffell, aus dem Haus trat. Und dem Apotheker schien es, als hätte der Sängerbursche auf gerade diesen Moment gewartet. Melchior nahm den Mörser und setzte sich etwas näher an das offene Fenster. Neugier war nun einmal das Laster aller Apotheker.

      Gerdrud, die vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Kilian, aber mindestens vierzig Jahre jünger als ihr Gemahl war, trug einen Marktkorb unter dem Arm und nickte Kilian zur Begrüßung höflich zu. Der junge Mann sprang vom Brunnenrand und verneigte sich.

      »Guten Morgen, Kaufmannsherrin«, rief er fröhlich. »Einen schönen Frühlingsmorgen wünsch ich Euch! Seht Ihr, welch ein wunderbarer und gesegneter Tag uns geschenkt wurde, es wäre geradezu Sünde, ihn nicht mit einem schönen Lied zu begrüßen.«

      Die junge Frau blieb stehen und antwortete aufgeweckt: »Guten Morgen, Kilian Rechperger. Wunderbar ist dieser Tag aber nur für diejenigen, die ihn mit Gesang und Lautenspiel verbringen können. Für andere ehrliche Stadtbürger gleicht er allen anderen Tagen, ist voller Arbeit und Mühsal.«

      Kilian spielte eine schnelle und unglaublich komplizierte Melodie und entgegnete dann: »Aber meint Ihr denn wirklich, Herrin Gerdrud, dass Gesang und Lautenspiel nur aus Gottes Gnade entstehen und man dafür nicht arbeiten und sich anstrengen muss?«

      »Alles geschieht aus Gottes Gnade«, sprach die junge Frau. »Singen kann ich auch, aber meine Arbeit und die Erledigungen nimmt mir niemand ab. Dem einen ist der Tag zum Musizieren gegeben, dem anderen, um sein täglich Brot zu verdienen.«

      »Onkel Mertin ist wohl reich genug, dass sich seine Frau nicht den lieben, langen Tag wie ein Waschweib abrackern muss. Ihr habt doch noch Ludke im Haus, und die Hauswirtin ...«, sagte Kilian spitzfindig, doch Gerdrud unterbrach ihn verärgert.

      »Was schwatzt du da, Kilian Rechperger! Es ist nicht deine Sache zu entscheiden, wie der Oldermann seinen Haushalt zu regeln hat. Du bist bei uns nur Kostgänger.«

      »Auch ein Kostgänger hat Augen im Kopf. Ich sehe doch, wie die Dinge hier in Reval gehandhabt werden und wie bei uns in Nürnberg! Wie der Vetter meines Großonkels seiner hübschen Gattin Arbeiten aufbürdet, für die man eigentlich drei Dienstmädchen bräuchte und für deren Bezahlung der alte Geizhals sehr wohl Geld hätte!«

      Ein dreister Kerl, dachte Melchior, wie er das Gespräch vom Fenster aus verfolgte. Dreist, aber er wagt es, die Wahrheit auszusprechen. Tweffell, den Oldermann der Großen Gilde, konnte man wirklich weder der Geldverschwendung noch der Prasserei bezichtigen. Seine junge Gemahlin – abgesehen davon, dass sie dem Kaufmann auf seine alten Tage eine Augenweide war – verrichtete tatsächlich mehr Hausarbeiten als so manch andere reiche Kaufmannsfrau hier in der Stadt. Der Diener Ludke und die alte Hauswirtin waren in Tweffells Haus die einzigen Angestellten.

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