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etwas mehr Freiheit und Freude reinzubringen. Ich bekam als Nächste den Zollstock und sagte, dass der Ansatz des ganz neuen Nachbarn mir gut gefiele, weil ich mich ohnehin schon so angeschlagen fühlte und der Meinung war, dass unser brandenburgisches Dorf an sich schon genügend Abschottung bedeutete.

      »Solange jetzt nicht die ganzen Städter rauskommen und sich in ihr Landhaus flüchten«, sagte meine Stuhlkreisnachbarin ganz richtig. Ich sagte besser erst mal nichts, denn dummerweise hatte ich den Fluchteltern bereits gesimst, dass wir eine Homeschool machen würden und sie ihre Fluchtkinder gerne dazustecken könnten. Als der andere Nachbar, also ihr Mann, den Zollstock bekam, stand er zum Reden auf, verschränkte die Arme und war ganz entschieden der Meinung, dass wir, als Teil der Gesellschaft, die wir ja nun mal wären, die Aufgabe hätten, das Risiko möglichst gering und damit den Kreis unserer Homeschool so klein wie möglich zu halten. Dann sah er mich direkt an und sagte, wenn er eine Mutter zu Hause hätte, die bald achtzig wäre, würde er sowieso niemals zulassen, dass irgendein Fremder das Haus betritt. Ich weiß schon, dass der Nachbar das bestimmt nicht so böse ausdrücken wollte, aber getroffen hat es mich dann doch. Ich habe ihm gesagt, dass meine Mutter sich nicht einsperren lässt, dass ich es sogar schon versucht habe, aber wenn jetzt die Tage immer wärmer werden und alles zu sprießen beginnt, könnte ich meine Mutter unmöglich vom Garten fernhalten. Lieber stirbt sie, hat sie gesagt.

      SOCIAL DISTANCING

      Social Distancing ist eine sehr effektive Methode, um die Weitergabe von Tröpfchen von einem Individuum zum anderen zu verlangsamen. Erst war der Begriff noch sehr neu und niemand wusste, wie lange er sich halten würde. Manche kamen sich toll vor, wenn sie ihn verwendeten, und andere setzten ihn eher ironisch ein. Aber bald schon war klar, dass Social Distancing in unserer Gesellschaft angekommen und ein neuer feststehender Begriff geworden war. Irgendjemand hatte auch schon einen Wikipedia-Artikel erstellt, dem dann viele weitere noch etwas hinzufügten. Überhaupt gab es bald viele neue Redewendungen, von denen man vorher noch nie gehört hatte. »Flatten the Curve« oder »Protect the Elderly« etwa. Oder Begriffe, die man zwar schon irgendwie kannte, aber kaum oder selten verwendet hatte, wie »Herdenimmunität«, »Durchseuchung« oder »Pandemie«.

      Da keiner wusste, ob er den oder das Virus schon hatte, oder ob der vor ihm in der Schlange es schon hatte, oder die Bäckereiverkäuferin, und weil die Tests, mit denen man das hätte testen können, irgendwie nicht zur Verfügung standen, musste man sehr bald einsehen, dass es wohl das Beste war, sich einfach erst mal voneinander fernzuhalten und einen Mindestabstand zu wahren. Anfangs setzten sich noch ein paar darüber hinweg und empfanden sich dabei als lässig und unaufgeregt, aber es dauerte nicht lang und keiner kam sich mehr cool vor.

      Innerhalb von Herden ist Nähe ein Ausdruck von Zugehörigkeit und Verbundenheit zu seiner Spezies, weswegen Gefühle der Einsamkeit nicht ausblieben, aber die meisten gewöhnten sich irgendwie daran.

      FLEDERMAUS II

      Sobald es dunkel wird, also in der späten Dämmerung, flattern bei uns die Fledermäuse lautlos ums Haus herum. Man muss nur ein paar Sekunden warten, bis sie wiederkommen, auf einer Bahn, die der vorherigen recht ähnlich ist. Ich fragte mich schon, ob sich das für die Fledermaus überhaupt lohnt, für die paar Mücken oder Motten, die sie dort erwischen kann, oder ob diese Flüge vielleicht doch noch einen ganz anderen Sinn haben.

      In der Stadt bekommt man die Fledermaus nur selten zu Gesicht. Sie stößt hochfrequente, für uns nicht hörbare Rufe aus, und überhaupt nimmt man sie mehr als Schatten wahr, als dass man sie konkret ausmachen könnte. Am Tag schläft sie, aufgehängt mit den Füßen nach oben, und im Winter sowieso. Fledermäuse sind nach dem Menschen die am häufigsten vorkommenden Säugetiere auf der Erde. Es gibt sie überall, bis auf die Antarktis. Ihr Immunsystem ist so stark wie kaum ein anderes. Während unser Immunsystem je nach Bedarf hoch- und runterfährt, um Kraft zu sparen, leistet sich die Fledermaus die ganze Zeit über die volle Abwehr. Ihr Immunsystem läuft ständig auf Hochtouren. Der schwarze Flughund und der Nilflughund sind besonders resistent. Ein Virus, das es aus der Fledermaus wieder heraus geschafft hat, ist gewappnet für die große, weite Welt, ein Mensch ist für ihn ein Kinderspiel.

      AMERIKA

      Das großartigste Land der Welt brauchte sich wirklich nicht vor einem Schnupfen zu fürchten. So ein kleiner, feiger, unsichtbarer Virusfeind würde den Vereinigten Staaten von Amerika nichts anhaben können, sagte der Präsident.

      Einen halben Tag lang musste sein Berater auf ihn einreden, bis er sich breitschlagen ließ, der Depesche zuzustimmen, dass der Virus ein gefährlicher Gegner wäre, den man ernst nehmen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Na gut, Gottes eigenes Land vor einem gemeinen ausländischen Virus zu schützen, das würde auf jeden Fall eine würdige Aufgabe sein, und ab da war der amerikanische Präsident voll drin in der Erzählung. Wenn er es geschickt anstellte, würde er als Held daraus hervorgehen können. Als Erstes taufte er das ausländische Virus auf den Namen China-Virus. Man muss den Leuten immer ein Bild liefern und so ließen sich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. »Fighting the China Virus«, das war schon mal nicht schlecht. Die von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagenen Namen SARS-CoV-2 für das Virus und CoViD-19 für die Krankheit, waren auch einfach nur öde und schwer zu merken. Und was sollte CoViD denn bitte heißen? Das bedeutete ja einfach gar nichts.

      VIREN II

      Vor Hunderten von Millionen von Jahren hat das Urvirus den Körper eines Lebewesens verlassen und schwebt seitdem auf der Suche nach neuen Körpern frei herum. Der Mann hat das irgendwo gelesen, weiß aber nicht mehr, wo. Das Urvirus soll aus der DNA eines anderen Lebewesens hervorgegangen sein, möglicherweise aus der eines Dinosauriers. Es hatte während der Zellteilung einen Fehler gegeben und ein einzelner kleiner Schnipsel schaffte es, der DNA zu entkommen und sich fortan, so unvollständig wie er war, in das Zentrum des Kopierens zu stellen. Das war dann Virus i und er ließ sich immer wieder und wieder kopieren. Im Internet konnte ich nichts zu dieser Theorie finden. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob ich den Mann richtig verstanden hatte. Er wirft mir so etwas beim Mittagessen hin, geht danach einfach wieder auf seine Baustelle und denkt, ich könnte dann noch weiter arbeiten.

      Dieser kleine Schnipsel, der seiner Zelle entkommen ist, liebt die Veränderung, und mit jeder fehlerhaften Kopie hat er die Chance, neues Unheil anzurichten. So schweben die Viren in Tausenden von Variationen unaufhaltsam durch die Welt. Sie sind maximal frei, lassen sich treiben und lieben das Chaos. Aber noch mehr lieben sie es, in scheinbar geordnete Systeme einzudringen. Das System hat keine Vorstellung davon, was es tut, wenn es diese Information, also den Bauplan aus dem Virus, wohlwollend aufnimmt. Die Hüllen von Virus und Zelle verschmelzen und die Erbinformationen werden übertragen. Dann wird das Virus von der gekaperten Wirtszelle kopiert und weiterkopiert. Solange das Virus von der Wirtszelle beherbergt wird, geht es ihm gut und alle sind zufrieden. Aber natürlich vernachlässigt die Wirtszelle dabei ihre normalen Aufgaben, und allzu lange kann man seine normalen Aufgaben nicht vernachlässigen, zumindest nicht, ohne dass es jemand merkt. Spätestens dann, wenn das Immunsystem mitbekommt, dass da etwas nicht nach Plan läuft, beginnt der Kampf. Das Immunsystem erstellt über die individuelle Eiweißkennzeichnung ein Fahndungsbild und die Soldaten des Immunsystems können losziehen und alles und jeden, der zu dem Bild passt, kurz und klein schreddern. Wenn das Immunsystem das Virus bereits kennt, ist das eine Sache von Tagen. Wenn das Immunsystem das Virus aber noch nicht kennt, muss erst ein neues Fahndungsbild erarbeitet werden. Der Virus gewinnt Zeit und der Körper gehört ihm.

      GOOGOL

      Schon seit Längerem waren die Suchmaschinen jetzt immer die Ersten, die wussten, was die Menschen bewegte. Die beliebteste Suchmaschine trug den Namen Google, weil der, der die Domain Googol für die Suchmaschinenfirma sichern sollte, sich verschrieben hatte. Googol ist der Name für eine Zahl mit 100 Nullen, also 10100, und so sollte auch die neue Suchmaschine heißen. Der Name der unvorstellbar

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