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Tages, nachdem er lange nach einer jungen Kuh gesucht hatte, zu einem Kreuzweg. Hier bin ich noch nie gewesen!, dachte er verwundert und blickte sich in der fremden Gegend um. Von der verlaufenen Kuh war weit und breit nichts zu sehen.

      »Wenn ich nur wüsste, nach welcher Seite ich gehen soll?«, fragte er sich ein wenig ratlos.

      Plötzlich stutzte er. Dort vorne, wo die beiden Wege aufeinandertrafen, standen zwei Frauen. Wie kamen Frauen hierher in die Einöde?

      Das schien ihm so merkwürdig, dass er anhielt und sich auf einen Felsblock setzte, um zu überlegen, ob er sie vielleicht fragen sollte, was sie hier suchten. Da merkte er, dass sie beide zu ihm herüberblickten.

      Und jetzt begann die eine, eilig auf ihn zuzugehen. Sie schien ihm sehr schön; ihr Gewand war prächtig, in kunstvolle Falten gerafft. Die Ringe an ihren Armen und die Spange auf ihrer Schulter funkelten in der Sonne. Dennoch missfiel ihm etwas an ihr, er wusste nicht genau, was es war.

      Fast erschrocken sprang er auf, denn jetzt stand die Frau dicht vor ihm und im gleichen Augenblick begann sie auch schon zu reden.

      »Sei gegrüßt, Herakles!« Ihre Stimme klang schmeichelnd und ihre Augen waren groß und strahlend auf sein Gesicht gerichtet. Er wunderte sich, woher sie wohl seinen Namen wusste. Aber sie ließ ihm nicht viel Zeit zum Wundern.

      Sie warf einen schnellen Blick zurück zu der anderen Frau, die noch immer still am Kreuzweg stand.

      Dann fuhr sie hastig zu reden fort. »Ich sehe, du weißt nicht, wohin du dich wenden sollst«, sagte sie. »Du bist noch jung und hast nicht viel Erfahrung; aber ich will dir gerne helfen. Man kommt immer wieder im Leben an eine Stelle, wo man sich entscheiden muss, ob man nach rechts oder nach links gehen soll«, fuhr sie mit einem sonderbaren Lächeln fort. »Siehst du, wenn du dich dort hinten nach links wendest, wirst du eine breite ebene Straße finden, auf der es sich vergnüglich, ohne Anstrengung und Gefahren gehen lässt. Schlägst du aber die Straße nach rechts ein, so wird der Weg bald steil und steinig werden, Kampf und Mühsal erwarten dich und du wirst deinen törichten Entschluss schnell bereuen. Sei also klug und geh nach links! Und merke dir: Immer im Leben sollst du die Straßen zur Linken gehen! Befolgst du meinen Rat, so wird dein Erdendasein schön und leicht und fröhlich sein. Du wirst ohne Mühe und Plage zu Reichtum gelangen, indem du andere für dich arbeiten lässt und selber die Früchte ihrer Arbeit erntest. Kümmere dich nicht darum, was recht oder unrecht ist – tu, was dir gefällt und was dir selber nützt! So wirst du herrlich und in Freuden leben! Was gehen dich die anderen an?«

      Herakles hatte aufmerksam zugehört. Aber je länger die Frau redete, desto misstrauischer wurde er.

      Freilich, auf den ersten Blick schien ihr Rat gar nicht so übel. Wer würde nicht gerne herrlich und in Freuden leben? Aber – ihm war, während sie so eindringlich sprach, plötzlich Rhadamanthys in den Sinn gekommen. »Du musst begreifen lernen, dass du deine Kraft nicht zum Bösen, sondern zum Guten nützen sollst!«, hörte er den Richter wieder ganz deutlich sagen. Nein, gut war es ganz gewiss nicht, was ihm die seltsame Fremde riet!

      Er sah sie neugierig an. »Wer bist du denn eigentlich?« Die Frage schien ihr nicht sonderlich zu gefallen und sie antwortete nicht gleich. »Meine Freunde nennen mich das irdische Glück«, sagte sie dann. »Die anderen freilich« – sie schwieg wieder und sah auf einmal gar nicht sehr freundlich, sondern sehr finster aus.

      »Wie nennen dich die anderen?«, drängte Herakles, dessen Wissbegier jetzt erwacht war.

      »Nun – meine Feinde geben mir allerlei hässliche Namen – aber das tun Feinde ja immer«, antwortete sie böse. »Sie nennen mich Lasterhaftigkeit oder Eigennutz oder – ach, was kümmert es dich!«, schloss sie ungeduldig. »Folge meinem Rat und du wirst sehen, dass ich die Wahrheit gesprochen habe!«

      Sie verstummte, weil Herakles gar nicht mehr auf sie achtete. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut zu einer hässlichen Fratze: Denn jetzt stand plötzlich die andere Frau neben ihr. Sie trug nur ein einfaches weißes Leinengewand, ihr liebliches Gesicht war ernst und ohne Falschheit.

      »Nun sollst du auch mich hören, Herakles«, sagte sie. »Ich verspreche dir weder ein herrliches Dasein noch Macht und Reichtum. Ich will dir nur sagen, was du tun musst, damit Ordnung in deinem Leben herrscht; denn nur dann wirst du zuletzt glücklich sein! Ehrst du die Götter, so werden sie dir gnädig sein. Willst du, dass dich die Menschen lieben, so tue ihnen Gutes. Erwirb dir den Wohlstand durch redliche Arbeit: Denn man kann nicht ernten, ohne zu säen. Verlangt es dich nach Ruhm unter deinem Volke, so musst du ihn durch Taten erwerben, die seinem Wohle dienen. Und ehe du über andere gebieten kannst, musst du lernen, dich selbst zu beherrschen.«

      »Siehst du wohl, Herakles?«, unterbrach sie die Erste mit einem hämischen Lachen. »Du wirst viel Plage und Entbehrung auf dich nehmen müssen, wenn du ihr folgen willst!« – »Du musst selbst entscheiden, welchen Weg du gehen willst: zur Rechten oder zur Linken«, fuhr aber die andere fort, ohne auf den Spott zu achten. »Freilich kannst du die Nächte durchtoben und die Tage verschlafen. Du kannst das Leben eines reichen Prassers führen, bis dir kein Wein mehr mundet und die Köche nicht mehr wissen, mit welcher Speise sie deinen Gaumen noch reizen könnten. Aber wenn dein Leben zu Ende ist, wird kein Mensch um dich trauern oder auch nur an dich denken. Kannst du dich aber dazu durchdringen den Weg zur Rechten zu gehen, so wird man deinen Namen stets mit Ehrfurcht nennen – auch wenn du längst gestorben bist.«

      Herakles hatte atemlos zugehört. Wie anders war sie doch als ihre Gefährtin!

      »Und wer bist du – wie nennt man dich?«, fragte er begierig.

      Sie sah ihn freundlich an. »Der Name ist nicht wichtig – wichtig ist nur, was du tust. Aber die Menschen nennen mich manchmal Tugend.«

      Herakles hätte gerne noch etwas gesagt oder gefragt, aber in seinem Kopf schwirrten die Gedanken so verwirrt durcheinander, dass er nicht gleich Worte fand. Und mit einem Mal schien ihm, als verblassten die beiden Gestalten vor ihm und würden sonderbar durchsichtig – und dann waren sie verschwunden. Er blinzelte im Sonnenlicht. Waren sie ein Traumbild gewesen? Aber er hatte alles so deutlich gesehen und gehört! Herakles setzte sich wieder auf den Stein, hielt die Keule zwischen den Knien und dachte über die seltsame Erscheinung nach. Plötzlich riss er die Augen auf und starrte vor sich auf die Erde. Da war eine Spur – er hatte sie zuvor nicht bemerkt, obgleich sie in dem weichen Boden ganz deutlich zu sehen war: die Eindrücke von riesigen Tatzen und eine Schleifspur, als habe dieses Tier mit den großen Tatzen einen schweren Körper mit sich fortgeschleppt. Herakles begriff im selben Augenblick, was die Spur bedeutete. Ein zorniger Laut, fast wie ein Knurren, kam aus seiner Kehle. »Der Löwe!«, sagte er ganz laut. Er erhob sich langsam, reckte die breiten Schultern und begann vorwärtszugehen, der Spur nach. Sie wandte sich am Kreuzweg nach rechts, dem Wald zu. Herakles lächelte, als er es bemerkte. So werde ich den Weg zur Rechten gehen, dachte er und fühlte, wie ihn plötzlich eine seltsame Fröhlichkeit überkam. Seine Gedanken wandten sich aber sogleich wieder dem Abenteuer zu, dem er entgegenging.

      Seit Jahr und Tag nämlich erzählten die Leute in der Gegend von dem riesigen Raubtier, das irgendwo in diesem Wald hauste und Tiere und Menschen überfiel. Kehrte ein Jäger nicht von der Jagd zurück, so schwor jedermann, der Löwe habe ihn gefressen. Verschwand ein Stück Vieh von der Weide, so hatte ganz gewiss das Ungeheuer es geholt. Er hat auch die schöne junge Kuh geraubt, dachte Herakles erbittert. »Aber es soll sein letzter Raub sein«, sagte er zu sich, während er mit mächtigen Schritten den Hang hinaufstieg. »Ich kehre nicht heim, ehe ich ihn erledigt habe!« Er brauchte nicht lange zu suchen. Zerdrücktes Gras und geknickte Zweige wiesen ihm deutlich genug den Weg zwischen Bäumen und Felsblöcken.

      Es wurde dämmerig unter den dichten Kronen und Herakles begann, behutsamer vorwärtszuschleichen. Er zog die Luft ein wie ein witterndes Tier. Und dann blieb er stehen, regungslos, ohne einen Laut. Er hatte die Witterung aufgefangen, die er suchte: den wilden, scharfen Geruch des Löwen.

      Fast zugleich sah er ihn. Das riesige Tier kauerte unter einem überhängenden Felsen, sein fahles Fell bildete einen hellen Fleck in der Dunkelheit. Und vor ihm lag das, was von dem geraubten Rind noch übrig war.

      Herakles biss die

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